10. Kasseler Jugendsymposion »Empathie«: Unterschied zwischen den Versionen

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[[Datei:Rob Mulholland web.jpg|400px|thumb|left|Spiegelskulpturen der Installation »Vestige« von Rob Mulholland im Wald von Aberfoyle, Stirling, Schottland. Foto: © Rob Mulholland 2012 ]]Empathie – die Fähigkeit, sich in andere Menschen und Welten einzufühlen – ist ein konstituierendes Element unseres Mensch-Seins. In der Verwirklichung von uns selbst als denkendem, empfindendem und handelndem Subjekt begegnen wir anderen Subjekten, können durch diese Begegnung verändert und weiterentwickelt werden. Die Entwicklung der Zivilisationen erhält aus dieser Perspektive eine neue, zukunftsfrohe Richtung.
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[[Datei:Rob Mulholland web.jpg|400px|thumb|left|Spiegelskulpturen der Installation »Vestige« von Rob Mulholland im Wald von Aberfoyle, Stirling, Schottland.  
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Foto: © Rob Mulholland 2012 ]]Empathie – die Fähigkeit, sich in andere Menschen und Welten einzufühlen – ist ein konstituierendes Element unseres Mensch-Seins. In der Verwirklichung von uns selbst als denkendem, empfindendem und handelndem Subjekt begegnen wir anderen Subjekten, können durch diese Begegnung verändert und weiterentwickelt werden. Die Entwicklung der Zivilisationen erhält aus dieser Perspektive eine neue Richtung.
  
Vor mehr als 2000 Jahren kam in Indien durch Siddharta Gautama ein Schulungsweg in die Welt, in dem die Entwicklung von Achtsamkeit und Mitgefühl grundlegende Stufen auf dem Weg der Höherentwicklung des Menschen sind. Achtsamkeit auf den eigenen Körper, insbesondere den Atem, auf die eigenen Empfindungen und Gefühle, Gedanken und Denkweisen sowie die Bedingungen der menschlichen Existenz führt zum Bewusstwerden der eigenen körperlichen, emotionalen und mentalen Prozesse und dient zur Befreiung von unbewusst determinierenden Faktoren. In der buddhistischen Meditation werden Achtsamkeit und die Entwicklung von Mitgefühl – Mitleid und Mitfreude – in besonderer Weise gesteigert.
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Vor mehr als 2000 Jahren wurde in Indien mit dem Buddhismus ein Schulungsweg entwickelt, der Achtung und Mitgefühl als grundlegende Stufen auf dem Erkenntnisweg des Menschen begreift.
  
In unserer heutigen Zeit werden diesen Fähigkeiten auch in den westlichen Kulturen als Mittel zur Weiterentwicklung des individuellen Menschen wie auch der Gesellschaft als Ganzes Aufmerksamkeit geschenkt. Für den Schweizer Philosoph Peter Bieri sind sie nicht nur Übungsschritte auf dem Weg zur Vervollkommnung der eigenen Seele, sondern zugleich eine innere Haltung, die unseren Mitmenschen etwas zutiefst Menschliches verleiht: Würde. Bieri sieht Würde nicht als eine Eigenschaft des Menschen – wo sollte man ihren Ursprung suchen? wer könnte sie uns verliehen haben? – sondern als eine Summe von Denk- und Verhaltensweisen, die anderen (und mir selbst) Würde ''verleiht''. Erst im Würde-gebenden Verhalten erkennen wir unsere Mitmenschen als selbständige Subjekte, als Menschen, an.  
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Auch in den westlichen Kulturen finden heute diese Mittel zur Weiterentwicklung des individuellen Menschen wie auch der Gesellschaft zunehmend Beachtung. Für den Schweizer Philosophen Peter Bieri sind sie nicht nur Übungsschritte auf dem Weg zur Vervollkommnung, sondern innere Haltungen, Denk- und Verhaltensweisen, die unseren Mitmenschen und uns etwas zutiefst Menschliches verleihen: Würde.  
  
Wer helfend in der Welt tätig sein will, kann erleben, wie aus dem achtsamen Wahrnehmen, dem Sich-Einfühlen der Impuls zur ''engagierten'' Begegnung mit dem anderen entsteht. Rupert Neudeck beginnt sein kürzlich erschienenes »Syrisches Tagebuch« mit den Worten: »Es hatte mich umgetrieben, das Leiden des syrischen Volkes.« Die aufmerksame und tätige Begegnung mit dem Anderen gibt ihm seine Würde zurück, wahrt seine und meine Identität als Mensch.
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Dieses Konzept steht gegenwärtig in einem Spannungsverhältnis zur darwinistischen Interpretation der Evolution als »Kampf ums Dasein«, denn seit über einem Jahrhundert akzentuiert die anthropologische Forschung den egoistischen, kämpferischen Aspekt der menschlichen Natur als Evolutionsfaktor. Als der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin 2009 sein Buch »Die empathische Revolution – Wege zu einem globalen Bewusstsein« veröffentlichte, kam dies der Aufforderung gleich, die Geschichte der Menschheit umzuschreiben. Seine These: Zivilisationen entstanden auf der Grundlage von Empathie, nicht von Aggression. Indem sich der Mensch als Ich-bewusstes Subjekt heranbildet und immer komplexere soziale Strukturen aufbaut, entwickelt er Empathie.
Doch man mag fragen: Sind all das nicht nur schöne Worte, die den Menschen in Ausnahmezuständen beschreiben? Ist das Leben in Wirklichkeit nicht ganz anders, viel egoistischer – »Kampf ums Dasein«, »Kampf der Kulturen«?
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Die anthropologische Forschung stellte jahrzehntelang vorwiegend den egoistischen, kämpferischen Aspekt der menschlichen Natur als Evolutionsfaktor in den Vordergrund. Als der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin 2009 sein Buch »Die empathische Revolution – Wege zu einem globalen Bewusstsein« veröffentlichte, kam es einer Aufforderung gleich, die Geschichte der Menschheit umzuschreiben. Denn Rifkin legt anhand zahlreicher Beispiele aus der Evolution der Menschheit dar, dass der Mensch im Wesentlichen ein mitfühlendes Wesen ist. Zivilisationen entstanden auf der Grundlage von Empathie, nicht von Aggression. Indem sich der Mensch als Ich-bewusstes Subjekt heranbildet und immer komplexere soziale Strukturen aufbaut, entwickelt er Empathie. Individualisierung und Empathiefähigkeit sind miteinander verknüpft. 1996 entdeckte eine Forschergruppe im menschlichen Gehirn die sog. Spiegelneuronen durch die wir Gefühle und Gedanken anderer nicht nur durch logische Überlegungen, sondern durch Simulation in unserem eigenen Gehirn erfassen können – und lieferten damit den Anthropologen den Beweis, dass Empathie nicht eine erworbene Kultureigenschaft, sondern ein vererbtes biologisches Merkmal des Menschen ist. (In den Folgejahren fand man Spiegelneuronen auch bei Primaten und höheren Säugetieren). Der jahrhundertealte Körper-Geist-Dualismus schien überwunden: Es sind physisch-leibliche, neuronale Mechanismen, die soziales Verhalten ermöglichen. In Abwandlung des Cartesianischen »Ich denke, also bin ich« könnte man nun sagen »Ich nehme teil, also bin ich«. In der innerlich aktiven Teilnahme am Schicksal meiner Mitmenschen verwirkliche ich mein Mensch-Sein und werde frei.  
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1996 wurden die sog. Spiegelneuronen entdeckt, durch die wir Gefühle und Gedanken Anderer nicht nur durch logische Überlegungen, sondern durch Simulation in unserem eigenen Gehirn bzw. im Nachvollzug am eigenen Leib erfassen können. Ist Empathie also nicht eine erworbene Kultureigenschaft, sondern ein vererbtes biologisches Merkmal des Menschen? Der Philosoph Wolfgang Welsch sieht in einer von Anfang an reflexiv veranlagten Natur den jahrhundertelang behaupteten Körper-Geist-Dualismus als überwunden an.
Die Entwicklung des individuellen Menschen wie auch der Menschheit als Ganzes zeigen, dass sich die Fähigkeit zur Empathie schrittweise von den Menschen in der unmittelbaren Umgebung bis hin zu einem globalen Bewusstsein erweitert. Der Andere wird als ebenso einzigartig erkannt wie ich mich selbst als einmaliges Individuum erlebe. Darin liegt eine kaum zu überschätzende zukunftsgestaltende Kraft, die auch politische Dimensionen in sich trägt: »Empathie ist der Boden, auf dem demokratische Verhältnisse wachsen und gedeihen können. Je empathischer eine Gesellschaft, umso demokratischer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen; je weniger empathisch, umso totalitärer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen« (Rifkin, 2009).  
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Für Rifkin birgt die Empathiefähigkeit des Individuums wie auch der Menschheit als Ganzes die Möglichkeit schrittweise ein globales, bio-sphärisches, auch unsere Erde als Planeten einbeziehendes Bewusstsein zu entwickeln. Darin läge eine kaum zu überschätzende zukunftsgestaltende Kraft, die auch politische Dimensionen in sich trägt: »Empathie ist der Boden, auf dem demokratische Verhältnisse wachsen und gedeihen können. Je empathischer eine Gesellschaft, umso demokratischer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen; je weniger empathisch, umso totalitärer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen« (Rifkin, 2009).  
  
Doch Empathie erstreckt sich nicht nur auf die Menschen: Auch unser Umgang mit dem Planeten Erde erfährt eine grundlegende Wandlung, wenn wir ihn mit Empathie betrachten. Hier finden wir einen Denkansatz, der die Menschheit zu einem verantwortlichen und nachhaltigen Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen führen könnte.
 
  
  

Version vom 27. März 2014, 12:25 Uhr

Spiegelskulpturen der Installation »Vestige« von Rob Mulholland im Wald von Aberfoyle, Stirling, Schottland. Foto: © Rob Mulholland 2012

Empathie – die Fähigkeit, sich in andere Menschen und Welten einzufühlen – ist ein konstituierendes Element unseres Mensch-Seins. In der Verwirklichung von uns selbst als denkendem, empfindendem und handelndem Subjekt begegnen wir anderen Subjekten, können durch diese Begegnung verändert und weiterentwickelt werden. Die Entwicklung der Zivilisationen erhält aus dieser Perspektive eine neue Richtung.

Vor mehr als 2000 Jahren wurde in Indien mit dem Buddhismus ein Schulungsweg entwickelt, der Achtung und Mitgefühl als grundlegende Stufen auf dem Erkenntnisweg des Menschen begreift.

Auch in den westlichen Kulturen finden heute diese Mittel zur Weiterentwicklung des individuellen Menschen wie auch der Gesellschaft zunehmend Beachtung. Für den Schweizer Philosophen Peter Bieri sind sie nicht nur Übungsschritte auf dem Weg zur Vervollkommnung, sondern innere Haltungen, Denk- und Verhaltensweisen, die unseren Mitmenschen und uns etwas zutiefst Menschliches verleihen: Würde.

Dieses Konzept steht gegenwärtig in einem Spannungsverhältnis zur darwinistischen Interpretation der Evolution als »Kampf ums Dasein«, denn seit über einem Jahrhundert akzentuiert die anthropologische Forschung den egoistischen, kämpferischen Aspekt der menschlichen Natur als Evolutionsfaktor. Als der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin 2009 sein Buch »Die empathische Revolution – Wege zu einem globalen Bewusstsein« veröffentlichte, kam dies der Aufforderung gleich, die Geschichte der Menschheit umzuschreiben. Seine These: Zivilisationen entstanden auf der Grundlage von Empathie, nicht von Aggression. Indem sich der Mensch als Ich-bewusstes Subjekt heranbildet und immer komplexere soziale Strukturen aufbaut, entwickelt er Empathie.

1996 wurden die sog. Spiegelneuronen entdeckt, durch die wir Gefühle und Gedanken Anderer nicht nur durch logische Überlegungen, sondern durch Simulation in unserem eigenen Gehirn bzw. im Nachvollzug am eigenen Leib erfassen können. Ist Empathie also nicht eine erworbene Kultureigenschaft, sondern ein vererbtes biologisches Merkmal des Menschen? Der Philosoph Wolfgang Welsch sieht in einer von Anfang an reflexiv veranlagten Natur den jahrhundertelang behaupteten Körper-Geist-Dualismus als überwunden an.

Für Rifkin birgt die Empathiefähigkeit des Individuums wie auch der Menschheit als Ganzes die Möglichkeit schrittweise ein globales, bio-sphärisches, auch unsere Erde als Planeten einbeziehendes Bewusstsein zu entwickeln. Darin läge eine kaum zu überschätzende zukunftsgestaltende Kraft, die auch politische Dimensionen in sich trägt: »Empathie ist der Boden, auf dem demokratische Verhältnisse wachsen und gedeihen können. Je empathischer eine Gesellschaft, umso demokratischer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen; je weniger empathisch, umso totalitärer ihr Wertesystem und ihre staatlichen Institutionen« (Rifkin, 2009).


Termin

Das 10. Kasseler Jugendsymposion findet vom 19. bis 22. Juni 2014 statt.


Essay-Themen

Um am Jugendsymposion teilzunehmen, schreiben Sie einen mehrseitigen Essay zu einem der folgenden Themen:

  • 1. Erst durch die Fähigkeit, sich von empathischen Empfindungen distanzieren und sie sprachlich fassen zu können, werden diese zur Erfahrung bzw. zum Bewusstseinsinhalt.
  • 2. Die Bedeutung von Literatur für die Kultivierung bzw. Differenzierung von Empathie
  • 3. Empathie – ein Mittel zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis?

Hinweis: Die Bearbeitung der Themen soll grundsätzlich auf Selbstbeobachtung bzw. konkreter Erfahrung aufbauen. Interessant an einem Essay sind weniger allgemeine Erwägungen, als eine pointierte, individuelle Sichtweise auf ein Thema.

Ihren Essay und das ausgefüllte Deckblatt zum Essay (das Deckblatt wird in den nächsten zum Herunterladen zur Verfügung gestellt) senden Sie bitte alles gemeinsam bis spätestens zum 19. Mai 2014 PER POST an folgende Adresse:

Kasseler Jugendsymposion
Brabanter Straße 30
34131 Kassel