Wirklichkeit im 3. Reich am Beispiel von Salomon Perel ("Hitlerjunge Salomon")

Aus Jugendsymposion
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von Benoît Paul Dumas, 26. Februar 2010

"HEUTE SEID IHR ALLE ZU ZEITZEUGEN GEWORDEN"

Salomon Perel überlebte den Holocaust als Soldat der Wehrmacht und Schüler einer HJ-Schule. Seine Erlebnisse schilderte er im Oktober 2009 den Schülern der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule Berlin-Dahlem

"In diese Kälte" kommt er aus Israel und hat einen Schimmer Hoffnung auf eine Lösung des Nahost-Konflikts noch nicht aufgegeben. Sein Lebenslauf lehrt dann auch wie so viele Lebensläufe seiner Zeitgenossen vor allem eines: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Allerdings unterscheidet sich sein Lebenslauf von allen anderen: Salomon Perel, Sohn jüdischer Eltern, am 21. April 1925 bei Braunschweig geboren, überlebte den Holocaust unter seinen Todfeinden als Hitlerjunge Jupp Perjell in der Wehrmacht und später in einer HJ-Schule in Braunschweig. Was sich zunächst wie ein Märchen anhört, ist wirklich geschehen. Davon können sich die Schüler der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule Berlin am 16. Oktober 2009 überzeugen. Auf einer Reise durch Deutschland, auf der Perel sein Buch "Ich war der Hitlerjunge Salomon" vorstellt, macht er auch Station in unserer Schule.

"Wer die Geschichte nicht kennt, ist ein Dummkopf; wer sie kennt, aber leugnet, ein Verbrecher", so beginnt Perel seinen Vortrag. Er weiß, was er sagt: Bis heute führe er ein Doppelleben, zwei Seelen veranstalten ein Tauziehen in ihm. Einerseits wollte er seinen Ursprung nicht verlieren, sich nicht selbst verleugnen, in bewundernswerter Weise gesteht Perel aber auch: "Ich war in der HJ, mit allem, was dazugehörte. Ich identifizierte mich mit der Nazi-Ideologie. Nur mit einem war ich nicht einverstanden: der Notwendigkeit des Judenhasses (...) Der Rest der Gedanken beeinflusste und überzeugte mich, alles klang so logisch, so wissenschaftlich".

In Peine, bei Braunschweig, erlebte Perel zehn "grüne" Kinderjahre, "ohne Handy und blutige Krimis", aber mit vielen Kinderbüchern. Seinen Geburtsort bezeichnet Perel als einen "wunderschönen Traum", der brutal unterbrochen wurde, als Hitler die Macht ergriff. Perel war damals acht Jahre alt. Heute sagt er: "Man wusste immer, was er (Hitler, Anm. d. Aut.) wollte, und er wurde umjubelt".

Ein wirklicher Eingriff in das Leben von Salomon Perel durch die Nationalsozialisten geschah jedoch erst 1935 mit der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze; "Gesetzlich legitimierter Völkermord - das konnte ich nicht glauben". Als einer der besten Schüler wurde Perel aus seiner Schule ausgeschlossen.

Die Familie zog schließlich um nach Lodz in Polen. Kaum hatte Perel die neue Sprache gelernt und sich in seiner neuen Heimat einigermaßen eingelebt, als Hitler den Zweiten Weltkrieg auslöste. "In einen Krieg kommt man leicht rein und schwer raus. Ich habe die Aufmärsche und deren Folgen erlebt: 55 Millionen Opfer des Rassenwahns und Deutschland lag in Trümmern. Trotzdem kommen heute welche mit den gleichen Parolen. Ich habe nie geglaubt, dass eine Jugend so etwas macht wie die Neonazis, das enttäuscht mich", so Perel.

Die Familie wurde ins Ghetto Lodz umgesiedelt, "dort kam man rein und nicht lebend wieder raus". Deshalb wurde Perel mit seinem Bruder von seinen Eltern auf Flucht geschickt, sie sollten so schnell wie möglich nach Ostpolen gelangen, um sich der Roten Armee anzuschließen. Während des herzzerreißenden Abschieds von den Eltern - einen Abschied für immer - wurden die Brüder vom Vater, einem Rabbiner, gesegnet. Der Vater gab ihm noch diesen Satz mit auf den Weg: "Vergiss nie wer du bist - bleib gläubig, dann bist du geschützt". Die letzten Worte, die Perel von seiner Mutter als Begründung für die Flucht empfing, wurden für ihn zum Befehl: "Du sollst leben". Unter Tränen trennte man sich. Perel sagt heute: "Ich konnte damals die Wichtigkeit nicht einschätzen, aber diese drei Worte von der Mutter retteten mein Leben, sie erzeugten eine magische Kraft, eine Energiequelle. Nur eine Mutter kann Kindern so viel Kraft weitergeben". Perel gelangte schließlich ohne seinen Bruder - sie wurden während der Flucht gewaltsam getrennt, da es ihnen bei der Überquerung des Bug nicht gelang, in das gleiche Boot zu kommen - in ein sowjetisches Kinderheim in Grodno. An die sozialistische Erziehung erinnert sich Perel kaum noch, vielmehr waren die zwei Jahre in Grodno für ihn von der Sehnsucht nach der Familie bestimmt. Als die Wehrmacht mit der "Operation Barbarossa" in Russland einfiel, wurden die im Kinderheim untergebrachten Kinder um fünf Uhr morgens geweckt, um Richtung Minsk zu flüchten. Es wurde versichert, dass die Rote Armee mit der Wehrmacht kurzen Prozess machen würde, aber die Realität war eine andere, denn die Rote Armee befand sich bereits in panischer Auflösung. "Alles brannte. Bei Minsk wurden wir auf einem Feld umzingelt. Alle Juden wurden von der SS exekutiert. Ich stellte mich in eine lange Schlange, um Zeit zu gewinnen. Bei jedem Schritt dachte ich an meine Eltern: Ich wollte nicht sterben. Mein Verstand setzte aus, mein Instinkt nicht. Ich vergrub alle meine Papiere. Die Zeit kam zum stehen. Schließlich stand ich vor einem deutschen Soldaten. Dieser befahl 'Hände hoch' und fragte mich 'Bist du Jude?'. Ich dachte an meine Vater: 'Bleibe gläubig' und an meine Mutter: 'Du sollst Leben'. Schließlich sagte ich mit fester Stimme: 'Ich bin kein Jude, sondern Volksdeutscher'". Perel kam in das Lager der Wehrmacht und wurde vor den Feldwebel geführt. Da er seine Papiere vergraben hatte, musste er alle Daten neu erfinden: Vater, Mutter, Name, Geburtstag usw. Er wurde schließlich unter dem Namen Josef Perjell Dolmetscher bei der Wehrmacht.

Bei seinen Kameraden wurde Perel schnell beliebt, sie nannten ihn Jupp. "Wenn die's gewusst hätten..", überlegt Perel, führt den Gedanken aber nicht zu Ende. Er berichtet dann von einem etwas besonderen Freund, den er in der Wehrmacht kennenlernte. Dieser Sanitätsunteroffizier hieß Heinz Kelzenberg und war schwul. "Er liebte mich auf die, nun ja, etwas andere Weise", wie Perel es ausdrückt. Zunächst fand Perel diesen Kameraden unsympathisch, denn er fühlte sich durch ihn belästigt. Perel gelang es nicht, einen Abstand zwischen ihm und dem Sanitätsunteroffizier herzustellen.

"Ich will nicht schildern, was er alles versuchte, um an meinen Körper zu kommen", so Perel. Eines Tages wollte Perel baden, als "... es passiert ist. Er hatte nie meine Zustimmung und es geschah gegen meinen Willen. Ich habe immer gebadet, wenn alle anderen schon fertig waren. Er hat sich, ohne dass ich es merkte, von hinten angeschlichen und mich umarmt. Ich konnte mich befreien und drehte mich, nackt wie ich war, um. Er war knallrot und sah schließlich meine Beschneidung. Ich habe ihn angefleht, mich nicht umzubringen und er hat gesagt: 'Ich tu dir nichts - Es gibt auch ein anderes Deutschland'. Ich hätte ihn auch verraten können, auch Schwule wurden ja verfolgt". Die Belästigungen hörten abrupt auf und Perel und Kelzenberg wurden echte Freunde. Als Kelzenberg einige Wochen später bei Leningrad fiel, war dies ein schwerer Schlag für Perel. Er hatte sich Kelzenberg anvertraut und so sein Schicksal nicht mehr allein mit sich getragen: "Als Heinz starb, war ich von neuem verwaist. Ich konnte seinen Tod nicht verschmerzen".


Der Hauptmann der Kompanie von Perel wollte ihn nach dem Krieg adoptieren. Als die Kompanie nun nach einem Fronturlaub wieder in den Kampf ziehen sollte, stellte man fest, dass Perel aus formellen Gründen - er war noch minderjährig - nicht länger an der Front eingesetzt werden konnte. Obwohl es Perel bei der Vorstellung graute, nach Deutschland gebracht zu werden, wo es "von Gestapo und Polizei wimmelte", blieb ihm der Abschied von der Kompanie als "große Ehre" in Erinnerung. In der HJ-Schule bei Braunschweig, in der Perel nun untergebracht war, wurde er "zum manipulierbaren Mordwerkzeug, wie der Rest der deutschen Jugend".

Heute überlegt sich Perel, wie es so weit kommen konnte: "Die Jugend damals übte keine Kritik. Die Jugend muss immer kritisch sein, sonst wird sie programmierbar". Den Nationalsozialisten gelang es, der Jugend die Kritikfähigkeit auszutreiben, indem alle deutschen Jugendlichen schon früh in die verschiedenen Jugendverbände wie zum Beispiel die HJ oder den BDM eingegliedert wurden, wo ihnen das nationalsozialistische Gedankengut eingetrichtert wurde. "Diese Verbände machten aus der Jugend eine einheitliche Masse, in der selbstständiges Denken unmöglich wurde". Die Zeit in der Braunschweiger HJ-Schule blieb für Perel immer mit großer Angst verbunden. Angst davor, dass sein Geheimnis entdeckt würde. "Ich war in der Höhle des Löwen angekommen, das war mir sofort klar". Bis heute erinnert sich Perel an den Schreck, den ihm der erste Anblick seiner neuen Unterkunft einjagte. Die Braunschweiger HJ-Schule war zu ihrer Zeit einzigartig im gesamten Deutschen Reich. Das Hauptziel dieser Schule war, ihren Schülern eine politische und technische Ausbildung zu gewährleisten und diese somit darauf vorzubereiten, Führungspositionen in den Parteiorganisationen zu bekleiden.

Der Alltag der HJ-Schule in Braunschweig entwickelte sich für Perel zu einem Alltag des Versteckens und der Sorge vor der Entdeckung. Besonders unangenehm für ihn waren vor allem das Duschen und das Waschen: "Ich will nicht schildern, was ich alles versuchte, um meine Beschneidung mit Fäden, Bandagen usw. zu verbergen".

Besonders angstbesetzt war auch der Rassenkundeunterricht: Eine besondere Begebenheit aus diesen Stunden hat sich bei Perel ins Gedächtnis eingebrannt: "Es ging um die unterschiedlichen Ausprägungen der germanischen Rasse. Der nordische Typ, blond und groß, ist schön und klug. Dem romanischen Typ wurden Führereigenschaften zugesprochen, schließlich wurden ja Hitler und Goebbels diesem Typ zugeordnet. So ging es weiter, bis mich der Lehrer mit einem Mal gebeten hat: 'Komm doch mal nach vorne und sei mir behilflich'. Ich war die Antithese zum Arier; ich dachte: 'das war's, jetzt entlarvt er mich'. Er aber sagte: 'Wir sehen hier einen klassischen Vertreter des ostbaltischen Ariers'. Noch einmal war ich davongekommen. Ich dachte: 'Hättest du's gewusst'. Ich hatte ja die komplette nationalsozialistische Rassenlehre widerlegt!" Perel hält kurz inne und sagt schließlich: "Ich habe meine eigene Rassenlehre entwickelt: Es gab ein Tier, welches einmal begann, auf zwei Füßen zu laufen. Mit der Zeit entwickelten sich die unterschiedlichen Hautfarben: Im Norden weiß, im Osten eher gelb, im Süden dunkel. Aber Mensch bleibt Mensch!" Nach dieser Ausführung kommt Perel noch einmal auf den Rassenkundelehrer zurück: "Ich habe ihn nach dem Krieg in Hannover einmal wiedergetroffen. Er fragte mich, wie es mir geht und ich sagte ihm, dass es mir gut gehe, aber dass ich einen Fehler zu korrigieren habe. Dann sagte ich ihm, dass ich keiner arischen Rasse angehöre, sondern von Kopf bis Fuß Volljude bin! Seine Reaktion war folgende: Er sagte, dass er es die ganzen Jahre hindurch gewusst hätte, aber er habe keine Probleme verursachen wollen. Und das schlimmste war: Er dachte, dass ich ihm glaube".

Zu Weihnachten '43 hatte Perel Ferien und nutzte diese, um Lodz zu besuchen. "Ich hatte solche Sehnsucht nach meinen Eltern. Ich ging zum Ghetto und stand am Stacheldraht und wurde so erschüttert. Es gibt keine Worte dafür. Ich konnte nicht glauben, dass so etwas unter Gottes Himmel möglich ist. Ich wusste nicht, dass das Ghetto acht Monate später liquidiert wurde. Ich ging schließlich den ganzen Stacheldraht entlang und dachte bei jeder Leiche, die ich sah, dies könnten meine Eltern sein. Schließlich kam ich zu einem Tor, welches leicht geöffnet war. Wie von einem Magnet wurde ich angezogen. So bin ich ins Ghetto hineingegangen. Ich lief einige Schritte, bis mich ein Wachmann ansprach: 'Du hast dich sicher verlaufen. Die Juden haben hier alle Typhus. Wenn du in den Bezirk auf der anderen Seite des Ghettos willst, musst du die Tram nehmen'. Also habe ich die Tram genommen. Die restlichen 12 Tage meines Urlaubs bin ich jeden Tag fünf bis sechs Mal mit der Straßenbahn durch das Ghetto gefahren". Abermals hält Perel kurz inne, bevor er ein sehr ergreifendes Erlebnis schildert: "Einmal sah ich eine Frau und ich war mir sicher: Das ist meine Mutter! Sie stand mit dem Rücken zu mir, sie konnte mich also nicht sehen. Was wäre passiert, wenn sie mich gesehen hätte? Hätte sie geschrien, hätte sie mich verraten. Vielleicht war es gut das sie mich nicht gesehen hat. Jedenfalls bin ich heute sicher, meine Mutter damals das letzte Mal gesehen zu haben. Immer wenn ich heute nach Berlin komme, lege ich einen Blumenstrauß auf eine bestimmte Stehle des Holocaust-Mahnmals. Diese Stehle habe ich symbolisch zum Grab meiner Mutter auserkoren".

Im Verlauf der Zeit in der Braunschweiger Schule lernte Perel noch einmal einen Menschen kennen, dem er seine wahre Herkunft anvertraute. Dies geschah nicht aufgrund besonderer Vertrauenswürdigkeit, sondern aus einer überraschenden Situation heraus. Obwohl Perel im Umgang mit Mädchen aufgrund seiner Beschneidung sehr zurückhaltend war, so gab es doch ein Mädchen, das ihm auf Anhieb gefiel. Ihr Name war Leni. Als Perel sie eines Tages besuchen wollte, öffnete die Mutter und teilte ihm mit, dass Leni außer Haus sei, um eine Freundin zu besuchen. Perel wollte schon gehen, als ihn die Mutter bat, doch in die Stube zu kommen. Da sie sehr ernst war, nahm Perel dies nicht als Bitte, sondern als Aufforderung wahr. Nachdem sich beide einige Minuten schweigend gegenüber gesessen hatten, fragte die Mutter: "Bist du wirklich Deutscher?" Perel berichtet, dass er in diesem Moment nicht anders konnte, als zu antworten: "Nein, ich bin Jude... bitte nicht zur Gestapo!" Die Mutter von Leni hatte gespürt, dass Perel ein Geheimnis mit sich trug, und ihre Vermutungen wurden erhärtet, als Perel sich am Mittagstisch mehrmals unterschiedlich zur Existenz von Großeltern geäußert hatte - einmal hatte er behauptet, er hätte Großeltern in Ostpreußen, ein anderes Mal hatte er gesagt, dass er der einzige noch lebende Vertreter seiner Familie sei. Die Mutter behielt das Geheimnis für sich, erzählte es nicht mal ihrer Tochter, und wurde für Perel so zu einer wichtigen Vertrauensperson.

Das Ende des Krieges streift Perel in seinem Vortrag nur kurz - die gesamte Schule wurde im Volkssturm eingesetzt, bis die Amerikaner das Gebiet im Sturm eroberten -und kommt dann zu der Botschaft die er vermitteln möchte: "Heute bin ich einer der letzten Zeitzeugen. Nach mir werden es immer weniger, irgendwann wird es keinen mehr geben. Aber ihr, die ihr heute meinem Vortrag beigewohnt habt, seid heute zu neuen Zeitzeugen geworden! Bitte gebt die Wahrheit an eure Kinder und Kindeskinder weiter! Jeder kann die Welt zerstören, aber jeder kann auch daran mitwirken, sie zu retten, damit nie wieder eine Generation erleben muss, was meine Generation erlebt hat. Ich bin heute 84 Jahre alt, ich erlebe jeden Tag als Geschenk, aber wenn ich zurück auf mein Leben schaue, dann frage ich mich: Was für einen Sinn macht das alles? Der Sinn meines Lebens ist, die Wahrheit nicht nur im Interesse der Juden, sondern für eine gemeinsame Zukunft an die folgenden Generationen weiterzugeben.

Ich wurde einmal von einer Schülerin gefragt: 'Herr Perel, können Sie uns verzeihen?' Ich habe geantwortet: Nein, ich kann euch nicht verzeihen, denn ich habe nichts zu verzeihen. Die Jugend ist nicht mitschuldig und trägt keine Verantwortung für die Taten von damals. Schuld kann man nicht erben!"

Zum Abschluss seines Vortrages kommt Perel noch einmal auf seine Eltern zurück: "Die Umwandlung von Salomon zum Hitlerjungen ging sehr schnell, die Umwandlung vom Hitlerjungen zu Salomon ist immer noch nicht beendet. Ich bin sehr glücklich über die Gaben, die meine Eltern mir mit auf den Weg gegeben haben. Allerdings habe ich mich auch gefragt, was mein Vater gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass ich so lange in der Hitlerjugend war. Ich bin mir sicher: Auch er wollte mich lebend!"

Dieses Essay ist im Zusammenhang mit dem ersten Kasseler Jugendsymposion, einer Zukunftswerkstatt für engagierte Waldorfschüler, entstanden. Ich möchte hier noch einmal darstellen, weshalb mich dieser Bericht so faszinierte und welche Zusammenhänge ich zwischen der Thematik des Vortrages von Salomon Perel und dem Thema des Kasseler Jugendsymposions, "Wirklichkeit", erkenne.

Ich bin seit meiner frühen Jugend sehr interessiert an Geschichte, vor allem an der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Grund habe ich während meiner Oberstufenzeit Besuche von Zeitzeugen immer genutzt, um ausführliche Stichpunkte zu sammeln, die es mir ermöglichen, die Vorträge für mich persönlich zu bewahren und bei Gelegenheit zu einem ausführlichen Text zu erweitern.

Am Vortrag von Salomon Perel beeindruckt mich besonders die Tatsache, dass Perel in seiner Jugend gezwungen war sich eine Parallelwelt zu schaffen, aus der er nicht herausfallen durfte. Teile der von Perel beschriebenen Erlebnisse sind so ungeheuerlich, dass man sie kaum mit dem heute allgemein verwendeten Begriff von Wirklichkeit verbinden kann: Allein mit welcher Konsequenz es Perel gelungen ist, seine wahre Identität zu verbergen, um in Organisationen zu überleben, zu deren übergeordneten Zielen die rücksichtslose Vernichtung seines eigenen Volkes gehörte, berührt die Grenzen unseres Vorstellungsvermögens.

Aber genau hier schließt die Thematik des ersten Kasseler Jugendsymposions an: Viele Teilnehmer nahmen vor allem eine Botschaft mit: Wirklichkeit ist nicht so, wie wir sie uns vorstellen. Wirklichkeit umfasst mehr als unser Vorstellungsvermögen fähig ist, aufzunehmen. Dies ist uns vor allem während verschiedener Vorträge aufgezeigt worden. Mit Prof. Dr. Hans-Peter Dürr erkundeten wir gemeinsam die physikalische Wirklichkeit, sprichwörtlich bis ins "kleinste Detail". Dabei stießen wir zu derartig kleinen Elementen vor, wie unser Denken sie kaum erfassen kann. Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk Emrich gewährte uns einen Einblick in das psychologische Verständnis von Wirklichkeit. Hier konnten wir erfahren, dass Wirklichkeit eine "inkonstante Größe" ist und somit sehr schwer zu erfassen ist. Schließlich wurde uns durch Prof. Dr. Marcelo da Veiga vermittelt, dass wir zwar in der Wirklichkeit leben, diese aber nicht zwangsläufig kennen.

Meiner Ansicht nach wird das in diesen Vorträgen entwickelte Wirklichkeitsbild durch die Erfahrungen und Erlebnisse, welche Salomon Perel durchlebte, sehr berührend und ergreifend bestätigt und ergänzt.

Benoît Paul Dumas
12. Klasse der Rudolf Steiner Schule Berlin-Dahlem

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