Wirklichkeit: Unsere Zeit im Geschichtsbuch – eine Überlegung zu verschiedenen Wirklichkeiten

Aus Jugendsymposion
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von Theresa Sichler, 28. Februar 2010

Bewerbung: Kasseler Jugendsymposion
Essay


Wirklichkeit – das große Thema unseres letzten Treffens in Kassel, ein Thema mit vielen Facetten, das überall auftaucht und welches ich in meinem Essay unter dem Gesichtspunkt unserer eigenen aktuellen Wirklichkeit betrachten möchte. Ich besuche die 12. Klasse der Freien Waldorfschule Krefeld und belege die Leistungskurse Geschichte und Chemie. Unser Abiturthema im Fach Geschichte konzentriert sich auf den Nationalismus und behandelt als Schwerpunkt dessen „Entstehung“ im langen 19. Jahrhundert in ganz Europa und seine Entladung im kurzen 20. Jahrhundert – das 20. Jahrhundert, das als Jahrhundert der Weltkriege und des nicht enden wollenden Blutvergießens in die Geschichte eingehen sollte.

Ein Verlauf, den die Zeitgenossen zur Jahrhundertwende nicht etwa unbedingt voraussahen: Wir haben uns in diesem Zusammenhang mit einigen Texten beschäftigt – Jahresrückblicken, kurzen Zeitungsartikeln, verschiedenen Kommentaren –, die viel mehr ein Jahrhundert des Friedens und Wohlwollens prophezeiten.

In diesem Kontext stellt sich früher oder später die Frage:
Wie wird das eigene Jahrhundert in die Geschichte eingehen?
Welcher Generation gehöre ich an?
Wie wird mein Handeln als das eines Individuums einer Gesellschaft später bewertet werden?
Welchen Anklagen werden wir uns unseren Kindern und Kindeskindern gegenüber stellen müssen?


Oder anders gesagt: Wie stimmt meine persönliche Wirklichkeit von Politik, Moral und Alltagsleben mit den tatsächlichen Zusammenhängen überein?
Diese Fragestellungen kann niemand unserer Generation beantworten und auch das Bild von uns in der fortwährenden Geschichte wird wohl nicht fix sein, zumal Einstellungen gegenüber bestimmten historischen Perioden genauso von kulturell bedingten Moralvorstellungen wie politischem System beeinflusst sind. Meine Annäherung an dieses Thema kann daher lediglich rein subjektiv erfolgen.


Die Wilhelminische Zeit, der Vormärz, das Dritte Reich – das sind alles Begriffe, welche erst nach Verstreichen der betreffenden Periode geprägt wurden: Ebenso wie die 68er, die Generation Golf oder die MTV-Generation vornehmlich im Nachhinein als bestimmte Gruppe „gleichartiger“ Individuen ernannt wurden. Mit der „Klassifizierung“ einer Gesellschaft in ein bestimmtes System erfolgt auch ihre Bewertung. Ob die Menschen ein offenes Blickfeld hatten, Vorurteile pflegten oder sich anderer Verbrechen schuldig machten – wenig entgeht dem strengen Urteil der Zukunft; wobei durch bestimmte Ereignisse, deren Voraussetzungen in vorigen Epochen geschaffen wurden und die in der bewertenden Gesellschaften nachwirken, sich der Blickwinkel auf die Zeit natürlich verfärbt: Die Verdienste der Weimarer Republik etwa werden heute eben in völlig anderer Form geschätzt als etwa im Nationalsozialismus. Denn ein System ohne nötige politische Entscheidungsgewalt, in dem die Diskussion eher als die Maßnahme erfolgt, wird im Dritten Reich als „Quatschbude“ diffamiert, während unsere „westliche Welt“ heute die Qualitäten dieser Periode ganz anders einschätzt, ist sie doch zumindest einer der sehr wenigen Versuche, eine funktionierende Demokratie auf deutschem Boden zu errichten.

Um sich der Mentalität einer Epoche zu nähern, empfiehlt sich die Beobachtung von historischen Quellen; eine besonders ergiebige ist in neuerer Zeit vor allem die Reklame: Kaum ein anderes Phänomen spiegelt die Seele einer Gesellschaft so verlässlich wieder wie Werbung – denn sie erfüllt nur ihren Sinn, wenn das beworbene Produkt auf ihr Betreiben hin gekauft wird, dafür aber ist ein positives Ankommen bei der breiten Masse oder bei bestimmten gesellschaftlich gut vertretenen Zielgruppen nötig.

So etwa unterscheidet sich Werbung des frühen 20. Jahrhunderts gewaltig von heutiger – dieser Verlauf kann auf unterschiedliche Weise beurteilt werden: Es gibt einmal die Möglichkeit, selbige Entwicklung an der Werbung eines einzelnen Konzerns durch die Historie hindurch zu beurteilen, wie beispielsweise der Coca-Cola-Company, oder aber man verfolgt die Geschichte der Reklame selbst, welche hier einmal grob umrissen werden soll:

Als „Beginn“ der Reklame, wie sie heute vornehmlich das Erscheinungsbild unserer Städte prägt, kann die industrielle Revolution ab 1850 gelten, die erstmals in der Geschichte zur Folge hatte, dass Werbung getrennt vom direkten Verkaufsort auf Produkte aufmerksam machte. Davor war Anpreisung der Waren stets nur auf den Marktständen bzw. in den Läden selbst erfolgt. Zwar war um 1650 mit der weltweit ersten Tageszeitung in Leipzig bereits ein passendes Medium für ihre Verbreitung geschaffen worden, allerdings war das Werben selbst in ihr noch bis 1850 verboten(1).


Diese Entwicklung nahm mit der Erfindung der Litfaßsäule um 1854 durch Ernst Litfaß ihren Verlauf – die industrielle Revolution begründete außerdem die Massenproduktion, welche dem Konsum eine völlig neue Bedeutung im Leben der Menschen zumaß. Gefolgt wurden diese Ereignisse in den 1930er Jahren von einer weiteren Umwälzung: Die Überproduktion und immer mehr Hersteller sorgten für eine wachsender Bestimmung der Nachfrage über den Markt und den Wettbewerb der konkurrierenden Anbieter(2).

Wenn man die Bedeutung der Werbung im heutigen Kontext betrachtet, so ergibt sich die Erkenntnis, dass Werbung in unserem Leben eine kaum zu unterschätzende Rolle einnimmt. Ganze Gebäudewände sind mit Plakaten behängt, Einkaufsstraßen über und über mit Slogans versehen; ganz zu schweigen von Werbepost und Mails, dem Internet, in dem auf nahezu jeder Seite 50 % des Platzes Annoncen vorbehalten ist – es wird kaum ein Tag vergehen, an dem einem durchschnittlichen Mitteleuropäer keine Werbung begegnen wird. Was sagt das über unsere Zeit aus?

Neben der „Informationsschwemme“ stetig ergiebiger werdender Nachrichtenquellen (TV, Internet, Druckpresse...) ist auch dieses Phänomen ein Hinweis auf die immense Reizüberflutung, der das Individuum ausgesetzt ist.


Und eine Reizüberflutung ist die Grundlage dafür, dass eine Steigerung dieser Reize gegeben sein muss, damit der Einzelne auf gewünschte Weise reagiert – die Folge davon sind Werbekampagnen, die in ihrer Bildsprache immer unverhüllter bestimmte Triebe ansprechen, so hat sich beispielsweise die Kosmetikreklame oder gar die der Automobilbranche in den letzten Jahrzehnten immer rasanter in eine sehr sexuell orientierte Richtung entwickelt: Kaum eine Lotion kommt ohne rehäugig dreinblickende (halb-)nackte Models aus, bei den PKWs wird zudem verstärkt auf Krach, Effekte und die Demonstration von Stärke in den Spots gesetzt, hier wird die letzte Abenteuerlust der „Bürohengste“ provoziert, ein BMW, das ist Adrenalin, das ist Erlebnis.


In diesem Sinne erschließt sich „unsere Ära“ als Beispiel hoffnungsloser Überflutung von Reizen, Nachrichten und Konsumgütern.

Diese „Überproduktion“ führt mit der Zeit zu einer gewissen Lethargie der Entgegennehmenden dieser Leistungen, also unser selbst – Beispiele für diese Verdorrung der Sinne finden sich in wachsendem politischem Desinteresse oder zumindest in wählerischem Desinteresse, in einer regelrechten Verweigerungshaltung, was das Bildungsangebot betrifft, wenn man die PISA-Ergebnisse berücksichtigt und in der Ignoranz, mit der wir wie selbstverständlich einerseits Dinge verschwenden, die für die ganze Menschheit bestimmt sind und andererseits die Augen verschließen vor Abläufen, die wir selbst mitverschulden und die unseren Planeten letzten Endes die Existenz unserer Spezies sowie des Großteils unserer „Mittiere“ kosten könn(t)en.

Denn das Scheitern eines UN-Klimagipfels in Kopenhagen ist die eine Seite der Situation, die andere Seite sind wir selbst mit unserem eigenen Verhalten. Ob es nun das morgendliche Seemannslied unter der Dusche, der iPod auf dem Weg in die Schule, aus der Schule, im Bett, der Nachmittag vor dem PC, oder der Abend mit dem Fernseher ist, ob man nun das Radio den ganzen Tag über eingeschaltet hat, die (Fußboden!-)Heizung oder die (Energiespar?-)Lampen, im Prinzip spottet unser tägliche Stromverbrauch jeder Beschreibung.

Und davon einmal abgesehen mögen wir uns zwar eifrig Bionahrungsmittel zur Beruhigung des schlechten Gewissens beschaffen, aber sobald es um die Schuhe, die T-Shirts, den Rock oder die Jeans geht, besucht man doch lieber H&M, New Yorker oder auch kik, als sich einen zugegebenermaßen nicht besonders ansehnlichen Filzpullover bei hessnatur zu bestellen; an die fleißigen jungen Arbeiter in Asien denkt man lieber nicht dabei – so weit geht die Ökoliebe dann eben doch nicht.

Sicherlich sollte man nicht nur auf uns schimpfen, schließlich setzen wir uns auch überzeugt für Frieden ein, wir sind gegen die Todesstrafe, lehnen Folter ab, spenden in die Dritte Welt und bekämpfen den Terrorismus, überwachen Wahlen, haben die Meinungsfreiheit bei uns durchgesetzt; das sind alles große Errungenschaften.

Die Frage ist nur – werden uns diese verwirklichten Ideale künftig auch zugerechnet werden angesichts ihrer diversen Schönheitsfehler?

Um es einmal reichlich überspitzt auszudrücken: Wenn in etwa einem Jahrhundert sich die Menschheit mit Klimakriegen auseinandersetzt und ihrem Aussterben entgegenblickt, weil Herr Schmidt gern bei offenem Fenster geheizt hat, wird ihm dann trotzdem ein Orden überreicht, weil er seine Kinder nie geschlagen hat?

Mit anderen Worten: Meinungsfreiheit, Frauenwahlrecht, Postgeheimnis, Würde des Menschen, all das halten wir heute für selbstverständlich; aber so wie der „Amerikaner“ des späten 18. Jahrhunderts wohl keinen Widerspruch darin sah, für das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit des Einzelnen gegen die unterdrückerische britische Krone in den Krieg zu ziehen, um nach Heimkehr erst einmal ein paar Sklaven auszupeitschen oder sich aber auch nur über das Unrecht auszuschweigen, welches dem tatsächlichen Amerikaner tagtäglich durch die europäischen Einwanderer angetan wurde, in diesem Sinne vertragen sich europäische Ideale nicht mit dem unverantwortlichen Gebrauch nur begrenzt zur Verfügung stehender „Luxusgüter“ wie Wasser und Strom. Und genauso werden spätere Generationen, denen unsere Errungenschaften für selbstverständlich gelten, die Fehler dieser Handlungen bemängeln.


Die Gesellschaft lebt immer im Käfig ihrer Wertevorstellungen und ihrer Gewohnheiten, von daher kann niemand das Bild und die Kette von Ereignissen ganz überblicken, unsere Wirklichkeit ist eine verfärbte Wirklichkeit, sie gehorcht unserem Weltbild und passt sich gegebenenfalls diesem an, wie Wasser, das erst durch das Füllen in ein Gefäß eine bestimmte Form annimmt. Aber die Frage ist auch: Wer überblickt diese Wahrheit später?

Ist man bei der Einordnung vergangener Ereignisse eher von seinem Weltbild gelöst, so dass eine sachlichere Beurteilung möglich wird?

Gibt es Wahrheit in dem Sinne, dass eine eindeutige Antwort gegeben werden kann, überhaupt? Ich persönlich bin der Ansicht, dass richtig beurteilt und gehandelt werden kann; ich schließe nicht aus, dass dabei auch verschiedene Wege existieren mögen, aber ich glaube nicht daran, dass die universelle Wirklichkeit nicht besteht.


"Der Jugend wird oft der Vorwurf gemacht, sie glaube immer, dass die Welt mit ihr erst anfange. Aber das Alter glaubt noch öfter, dass mit ihm die Welt aufhöre."
(Friedrich Hebbel, deutscher Dichter [1813 – 1863])


Theresa Sichler


(1) http://www.planet-wissen.de/kultur_medien/kommunikation/werbung/geschichte_der_werbung.jsp

(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Litfa%C3%9Fs%C3%A4ule


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