Was ist Wirklichkeit?

Aus Jugendsymposion
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von Raphael Kaubruegger, 28. Februar 2010

Dieser Text ist ein Beitrag für unsere Schulzeitung den Mergelteich...

Was ist Wirklichkeit?
Bericht über das erste Jungendsymposion in Kassel

„Ja, was genau ist denn eigentlich Wirklichkeit?“, war die Frage die ungefähr 200 Waldorfschülern am ersten Abend ihres Zusammentreffens in Kassel gestellt wurde. Alle waren sie der Einladung zum ersten Kasseler Jugendsymposion gefolgt. Es fand vom 10 bis zum 13 Dezember 2009 statt und sollte den Schülern die Möglichkeit geben an spannenden Vorträgen und Trainingsgruppen teilzunehmen und, um mit anderen Menschen Fragen zu philosophischen, politischen oder gesellschaftlichen Themen zu diskutieren. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich an dem Symposion teilnehmen konnte und möchte nun ein bisschen darüber berichten. Das Thema des ersten Symposions war die Frage: „Was ist Wirklichkeit?“. Während der Vorträge wurden die unterschiedlichsten Fragen zur Wirklichkeit angestoßen.


Was ist Wirklichkeit? – Philosophisch fragen, mit Perspektive handeln
Prof. Dr. Wilfried Sommer

Im ersten Vortrag ging es darum, was aus einer philosophischen Perspektive „wirklicher“ ist, das „Sein“ oder das „Bewusstsein“. Um diese Frage zu verdeutlichen stellte Prof. Dr. Wilfried Sommer von der Alanus Hochschule zwei Denkarten der Philosophie vor, nämlich das „Primat des Objekts“ und das „Primat des Subjekts“ und schließlich noch eine dritte, die man als Folge der beiden sehen kann.

Das Primat des Objekts, beschreibt die Objekte, die es um uns herum in der Welt gibt, als Wirklichkeit. Das reine Objekt (außerhalb des Menschen) ist also wirklich. Die Welt, ihre Erscheinungen und alles was passiert – das alles kann „logische“ erklärt werden. So ist ein Mensch nur das, was er auf Grund seiner Gene sein muss. Gefühle und Gedanken sind in dieser Denkweise nichts weiter als Reaktionen die ein Objekt, das Gehirn des Menschen, hervorruft. Das Primat des Subjekts, stellt das Subjektive, in den Vordergrund. Objekte sind demnach nur etwas, was wir uns vorstellen können. Der Mensch ist das Wichtigste in dieser Denkweise. Durch sein Wahrnehmen versucht er die Wirklichkeit der „Dinge“ zu erklären. Wir Menschen sind demnach grundsätzlich nicht in der Lage, die wahre Wirklichkeit zu erkennen und müssen ständig in der Illusion leben, die wir uns selbst „erfinden“, trotzdem sind wir aber vor allem die Erfinder dieser Wirklichkeit.„Embodied mind“ auf Deutsch „verkörperter Geist“ ist eine dritte Denkrichtung der Philosophie, die die ersten beiden völlig gegensätzlichen Ansichten zu vereinen versucht. Es besteht hierbei die Möglichkeit, den Standpunkt zu wechseln, also von der ersten Person, der subjektiven Position, zur dritten Person, „man selbst nur als weiteres Objekt“, zu wechseln. Nach „Embodied mind“ sind es diese beiden Perspektiven die „Wirklichkeit“. Nur wenn wir diesen Wechselbezug suchen und auch erkennen, können wir der „Wirklichkeit“ näher kommen. Eine wichtige Folge dieses dritten Denkweges ist es, dass wir Wirklichkeit weder „als Objekt verhören“, noch als Subjekt unsere eigene Wirklichkeit „erfinden“ sondern dass wir an der Wirklichkeit teil haben und sie leben.


Neues Denken für eine Welt im Umbruch
Prof. Dr. Hans-Peter Dürr

Der nächste Anstoß kam aus dem Bereich der Physik. Hans-Peter Dürr lud uns zum Weiterdenken ein. Eine Aufforderung, in der es darum geht, neue Wege zu finden, dort wo alte versagen, Mut zu haben, Neues zu denken, und nicht immer im gleichen Denk-Schema zu bleiben. Dieser Aufruf ging vor allem an seine Kollegen in der Wissenschaft, denen es viel zu oft darum geht, zu Ergebnissen zu kommen ohne die wirkliche Natur der Dinge zu erkennen. Doch nicht nur diese Einladung war Thema seines Vortrags, sondern es drehte sich wieder alles um Wirklichkeit. Hans-Peter Dürr betonte immer wieder, dass man die Wirklichkeit einer Sache, nicht nur durch Wissenschaft und Forschung erkennen kann. Das Mystische, Intuitive und die Gefühlswelt sind genau so wichtig, um zur Wirklichkeit vor zu dringen. Sowohl eine äußere wie auch eine innere Betrachtung sind für das Verstehen notwendig. Ohne diese zweite Ebene ist es nur möglich die „Realität“ zu finden, die er abfällig als etwas Totes beschrieb. Ihre Lebendigkeit verliert die Realität in seinen Augen, dass sie in die festen Formen der Wissenschaft gepresst wir und ihr keine Möglichkeit zur Wandlung offen bleibt.

In der Quantenphysik stellte man fest, dass Teilchen unter einem anderen Blickwinkel auch als Wellen erkennbar waren. Man muss also davon ausgehen, dass die Materie nicht aus Teilchen sondern aus Wechselwirkungen besteht. Noch dazu kommt, dass sich diese Wechselwirkungen nicht immer ganz Gleich verhalten und es zu Abweichungen kommen kann. Eben diese Möglichkeit, dass sich etwas anders verhält als erwartet, überträgt er auf die Wirklichkeit. Das heißt, die meisten Dinge verhalten sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, vorhersehbar. Sie haben allerdings immer die Möglichkeit sich auch ganz anders, unerwartet zu verhalten. In diesem Zusammenhang führte uns Hans Peter Dürr sein "Chaospendel“ vor. Dieses Chaospendel verfügt anstelle des bei Pendeln normalem einen Arm über zwei weitere Arme, die aneinandergehängt sind. Bei der Pendelbewegung kommt deshalb immer wieder zu Zuständen absoluter Instabilität, an denen das Pendel in jede beliebige Richtung umschlagen kann. Die Wirklichkeit lebt also immer in einem Zustand der Potenzialität, in der zwar Erwartetes oft eintritt, aber es kann auch immer wieder etwas völlig Unerwartetes eintreten. Genau diese Unbestimmtheit der Zukunft gibt den Dingen Lebendigkeit und lässt sie zu etwas Wirklichem werden.


Arbeit und Einkommen
Prof. Götz Werner

Im Gegensatz zu diesen mehr philosophischen Vorträgen, gab es auch Beiträge, die auf mehr praktischem Weg sich dem Thema Wirklichkeit näherten. Einen dieser Vorträge hielt Götz Werner. Er ist, der Gründer der dm-Drogeriemarkt-Kette und ein Fürsprecher für das „Bedingungslose Grundeinkommen“. Er stellte die Frage, wie man den Wert von Arbeit bestimmen kann. Je mehr man sich mit dieser Frage beschäftigt und Einkommen weltweit vergleicht, stellt man bei dieser Frage einen erheblichen Verlust an "Wirklichkeit" fest. Daraus hat sich die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens entwickelt. Es geht darum die Arbeit an sich zu vergüten und nicht etwa den Nutzen den diese hat. Damit würde in der Sozial und Finanzpolitik vieles einfacher und billiger werden. Neue Gedanken verändern den Blick auf das, was uns umgibt. Ist die soziale Wirklichkeit realistisch? Oder ist die soziale Utopie die eigentliche Wirklichkeit?


Physiologie, Psyche und Bewusstsein
Prof. Dr. med. Dr. phil. Hinderk Emrich

Das Primat des Subjektes war bei den Ausführungen des Gehirnforschers Hinderk Emrich mit im Spiel. Wirklichkeit sei immer genau das, was der Einzelne für sich selber wahrnimmt. Damit ist Wirklichkeit weder real, noch verfolgt sie eine konstante Linie. Die Ursache dafür ist, dass sie laufend vom Gehirn umgestaltet wird. So kommt es auch, dass jeder Mensch seine eigene Wirklichkeit hat, Beziehungsweise sich selbst aufbaut. Das wurde an folgendem Beispiel veranschaulicht: Bei der Synästhesie erlebt man zu einer Sinneswahrnehmung noch eine zweite. So kann es zum Beispiel vorkommen das man die Farbe Rot sieht und dazu den Laut "a" hört, aber auch sonst können die unterschiedlichsten Sinneswahrnehmungen kombiniert werden. Ursache für die Synästhesie ist eine zu große Konnektivität im Gehirn, das heißt, dass Teile im Gehirn mit einander verbunden sind, die normalerweise nicht miteinander gekoppelt sind. Es stellt sich die Frage, ob der Synästhet in einer anderen Wirklichkeit lebt als der „allgemein gültigen“ oder ob seine Wirklichkeit einfach nur eine andere, aber genau so „wirkliche Wirklichkeit“ ist? Es kann ja auch so sein, dass jeder von uns die Welt anders wahrnimmt und somit jeder Mensch im Besitz seiner eigenen Wirklichkeit ist.

Nach Hinderk Emrich Sicht der Dinge beeinflusst das Gehirn maßgeblich unsere Sicht der Dinge. Einen Teil haben wir von den Säugetieren geerbt, das Limbische Hirn. Dieses ist für unsere Emotionen zuständig. Ein anderer großer Einflussfaktor auf die vom Gehirn erzeugte Wirklichkeit ist die Angst. Sie kann bei Menschen zu einer völlig unterschiedlichen Sichtweise der Welt führen. Aber nicht alleine die Angst prägt unser Bild von der Wirklichkeit sondern alle Erfahrungen die ein Mensch im Laufe seines Lebens gemacht hat und so wird jedem, seine eigene, individuelle Wirklichkeit garantiert.


Notfall-Pädagogik: Pädagogische Akuthilfe in Krisengebieten
Bernd Ruf

Ganz anders war der Vortrag von Bernd Ruf, dem Gründer der Freunde der Erziehungskunst. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit Menschen zu arbeiten, die einen schweren Schock erlitten haben. Diese Arbeit nennt er Notfallpädagogik. Es geht darum, möglichst rasch zu helfen bevor sich das Erlebte als ein Trauma im Menschen festsetzt. Man könnte also sagen, etwas Schreckliches, aber auch „Wirkliches“ einen ganz normalen Menschen auf eine furchtbare Art und Weise verändern kann. Verdeutlicht wurde dies am Beispiel Israels und Palästinas. Bernd Ruf beschrieb einen Kreislauf dieser Traumata, aus dem eine immer größere Gewalt hervorbricht.

Ein Beispiel für die Spirale der Gewalt: Ein kleines Kind erlebt, wie sein Haus durch einen Bombenangriff in Schutt und Asche gelegt wird. Es sieht wie dabei alle Verwandten qualvoll sterben. Aus diesem Schmerz und der Einsamkeit kann der Hass wachsen und dazu führen, sich als Selbstmordattentäter mit dem Feind in die Luft zu sprengen. Dabei wird vielleicht wieder die Familie eines anderen Kindes getötet. Dieses Kind steht genauso machtlos und entsetzt dem Schmerz und der Einsamkeit gegenüber. So wächst ein sympathischer junger Mann heran, der durch diesen Schicksalsschlag, als skrupelloser Flieger Häuser in Schutt und Asche legt.

Um genau diese widerwärtigen Kreisläufe zu verhindern entstand die Notfallpädagogik, um in Krisengebieten zu helfen, Traumata zu überwinden und weiterhin friedlich leben zu können. Bei dieser Arbeit geht es vor allem darum, den Kindern wieder einen Rhythmus zu geben. Die Kinder werden durch das Malen von Bildern, Heileurythmie, Erlebnispädagogik, musikalischen Spielen und noch vielen anderen Übungen zurück ins Leben geholt. „Aus der Krise eine Chance zu machen“ ist das Motto unter dem die notfallpädagogischen Aktionen der Freunde der Erziehungskunst in vielen Krisengebieten stattfinden.


„Was ist Wirklichkeit?“, war die zentrale Frage des ersten Kasseler Jugendsymposion. Mir ist klar geworden, dass es auf diese Frage keine allgemein gültige Antwort gibt, dass sich in unterschiedlichen Situationen ein unterschiedliches Bild der Wirklichkeit ergeben kann. Es geht mehr darum, dass jeder Mensch die Chance hat, seine persönliche und vor allem individuelle Wirklichkeit zu finden. Eine, in der er sich selbst wieder finden kann, eine lebendige Wirklichkeit, mit der Chance zu wachsen und sich weiter zu entwickeln

So konnte mir das Jugendsymposion auch keine Definition zur Wirklichkeits-Frage liefern, mir aber sehr wohl helfen, einen großen Schritt zu meiner eigenen Wirklichkeit zu tun, für den ich sehr dankbar bin. Doch ging es bei dem Jugendsymposion nicht nur um Wirklichkeit, sondern es gab auch reichlich Möglichkeit, sich zu begegnen, Aufbruch und Veränderung war in der Luft. Die Befürchtung, dass alles ganz waldörflich sein würde, erwies sich erfreulicher weise als unbegründet.

Zur Fortsetzung wird das Kasseler Jugendsymposion weiterhin im Halbjahrestakt, mit immer wieder wechselnden Themen stattfinden. Das nächste wird zum Beispiel das Thema Geld aufgreifen. Wer jetzt Interesse daran bekommen hat, auch an einem dieser Jugendsymposien teil zu nehmen, der kann das gerne tun. Auf der Internetseite des Jugendsymposions www.jugendsymposion.de lässt sich alles Relevante für eine Bewerbung zu einem der kommenden Jugendsymposien nachlesen.

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