Kunst und Gegenwart

Aus Jugendsymposion
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von André Callegaro, 8. Oktober 2010

Die Kunst hat heutzutage bei einem Teil unserer Gesellschaft eine merkwürdige Rolle inne. Man geht ins Museum oder ins Theater, weil es schick ist. Es ist ein spezieller Anlass wenn sich zum Beispiel die ganze Familie mit Oma und Opa die neue Ausstellung anschauen geht, oder wenn der Patenonkel einen gemeinsamen Theaterbesuch verschenkt hat. Man geht eben hin, zieht sich fein an, nickt staunend oder klatscht brav und zeigt anschließend die Zeitungskritik herum: „Schau mal, da war ich.“

Und in anderen Gesellschaftsteilen ist noch weniger Interesse daran, Kunst aktiv zu erleben. Man weiß zwar, dass es sie gibt. Aber zunehmend weniger tangiert die Kunst noch das „echte“ Leben oder beeinflusst es gar. Sie ist oft zu einem Accessoire geworden, ja zu einer Konvention. Nach einem Besuch einer Oper, eines Museums oder Theaters denkt man vielleicht noch etwas daran, aber spätestens am nächsten Morgen kehrt man zurück zum business as usual. Die Bedeutung, welche die Kunst eigentlich hat, gerät zunehmend in den Hintergrund. Dies liegt aber nicht allein an der Einstellung des Publikums, der Besucher. Denn auch die professionelle „Kunstindustrie“ selbst, wie zum Beispiel staatliche Museen, Orchester und Theater trägt dazu bei. Schon 1928 beklagte Max Reinhardt in seiner Rede über den Schauspieler die „Armut des eigenen Blutes“, an der das Theater leide. Er meint damit die Oberflächlichkeit der Darstellungen, eben dieses zunehmend accessoire-ähnliche Element, das sich vermehrt bei der Kunst finden lässt. Dass beim Schauspiel oder bei der Musik auf professioneller Ebene auch die Künstler zu gewöhnlichen Arbeitern werden können, zeigt schon allein die Bezeichnung ihrer Tätigkeit als Dienst. Aber die Kunst gehört unmittelbar zum Leben dazu, das Leben ohne Kunst ist sehr arm. Sehr drastisch wird diese Tatsache in diesem Auszug aus W.C. Williams Gedicht „Asphodel, That Greeny Flower" verdeutlicht: “It is difficult to get the news from poems, yet men die miserably every day for lack of what is found there.” Hier wird dargestellt, dass die Kunst zwar wirklich nicht das Alltagsleben betrifft, sie jedoch etwas ganz essentielles vermittelt, was auch nur hier gefunden werden kann. Denn dass Kunst einen wichtigen Beitrag zum Leben geben, ja sogar überlebenswichtig sein kann, zeigen auch viele Erfahrungsberichte von Menschen in schwierigen Situationen wie Krieg, Gefangenschaft oder Krankheit, die durch Kunst große Hilfe bekamen und so überlebten.

Doch was ist es an der Kunst, was so essentiell, so lebensspendend ist? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen möchte ich ein konkretes Beispiel in der Musik betrachten, nämlich die letzte Probenphase des Jugendsinfonieorchesters Kassel. Unter anderem erarbeiteten wir dort eine Bearbeitung A. Weberns der sechsstimmigen Fuge aus dem „Musikalischem Opfer“ von J.S. Bach. In diesem Stück, das ja im Original für Klavier geschrieben wurde, hat Webern immer kleine Themenfragmente von manchmal nur einem oder zwei Tönen auf das ganze Orchester verteilt, sodass beispielsweise der erste Themenkopf in vier verschiedenen Instrumenten erklingt, die sich jeweils gegenseitig ablösen. In diesem Schema erklingt das gesamte Stück, mal in solistischer, mal in voller Stimmgruppenbesetzung, durch alle Instrumentengruppen hindurch. Dementsprechend war es anfangs nicht ganz leicht, die eigenen Bruchstücke, durch viele Pausen unterbrochen, in das Gesamtgefüge einzubringen. Als dies jedoch schließlich gelang, dann hörte man immer mehr, wie alles zusammenhing, wie ein Instrument das andere bedingte, wie keines alleine für sich spielen konnte. Als wir unser Programm mit diesem Stück in einem Konzert aufführten, stellte sich nun für mich die Frage: Wer ist denn nun der Künstler, der diese Kunst möglich gemacht hat?

J.S. Bach hat die Musik aufgeschrieben, er hat sie möglich gemacht. Jedoch hätte nur mit Bach dieses Konzert nicht stattfinden können. A. Webern hat die Musik orchestriert und mehr noch, durch seine meisterhafte Kunst aus dem Klavierklang einen ständig wechselnden Klangkörper mit immer anderen Klangfarben geschaffen. Jedoch hätte auch Webern allein dieses Konzert niemals geben können. Die Orchestermusiker haben die Noten geübt, haben sie durch die Technik, „Spielkunst“, hörbar gemacht. Aber ein Musiker alleine kann bei weitem nicht dieses Stück aufführen. Der Dirigent hat das Werk studiert, er gibt ein Tempo vor, steuert Ausdruck und dynamischen und agogischen Verlauf des Stücks. Aber wie lächerlich wirkt ein Dirigent ohne Musiker, man kann nichts von der Kunst wahrnehmen. Schließlich ist da noch das Publikum, das eine Atmosphäre schafft, das andächtig zuhört oder unruhig flüstert. Die Konzertatmosphäre ist erst durch das Publikum gegeben. Doch ein Publikum alleine lässt auch keine Kunst entstehen. Es ist deutlich, dass niemand dazu in der Lage ist, diese Kunst für sich allein zu erleben. Man kann nicht, wie zum Beispiel bei einem Gemälde jederzeit hingehen, Kunst erleben und wieder gehen. Es muss ein Zusammenspiel von vielen Menschen existieren, die sich nicht sich selbst, sondern der Kunst hingeben. Erst wenn jeder Musiker seine Pausentakte richtig zählt, fügt sich alles zu einem Gebilde zusammen.

Und dieser Zusammenschluss aller Beteiligten ist ein großes Gegenwarts-Erleben. Man spürt: Jetzt ist der Moment, an dem alle notwendigen Gegebenheiten zusammenwirken, die Kunst wird erlebbar. Nur jetzt, ganz neu und einzigartig, trotz dass sie auf dem Papier schon über 250 Jahre existiert und Tausende Male aufgeführt wurde. Und Ich bin beteiligt, bin selber Teil der Kunst.

Wer ist also der Künstler im Sinne des Kunsterschaffenden? Diesen kann es nicht geben, denn Kunst kann nicht erschaffen werden. Wie an dem Beispiel deutlich wurde, ist die Kunst schon immer da. Was der Mensch aber tun kann und immer tun muss, ist, die Kunst greifbar, erlebbar zu machen. Mit anderen Worten gesagt: Der Künstler bring die Kunst in die Gegenwart, er befreit sie. Bach half der Fuge in die irdische Welt, Webern kleidete sie in ihren Klangmantel, das Orchester führt dies in der Praxis aus und das Publikum schafft den Rahmen für dieses gemeinschaftliche Gegenwarts-Erleben. Das ist die Essenz der Kunst, dass sie hier und jetzt etwas bei mir bewirkt. Denn nicht der Mensch „macht“ die Kunst, sondern die Kunst wird Mensch.