Körperzeit und Seelenzeit

Aus Jugendsymposion
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von Theresia Ziegs, 15. Oktober 2010

»Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken ja darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber.« Michael Ende

Über die Zeit in unserem Körper und unserem Bewusstsein

Wer heute über die Zeit nachdenkt, dem fällt schnell auf, dass sie etwas Unangenehmes und Unpraktisches ist. Mal zu viel, mal zu wenig; jedenfalls nie, wie wir es gern hätten. Wünschten wir doch manchmal, der Tag hätte 30 Stunden. Ein anderes Mal sind einige Minuten schon zu lang. Im Großen und Ganzen ist sie jedoch zu wenig vorhanden. Keine Zeit zu haben ist eine Krankheit, eine westliche Epidemie. Höchst ansteckend; keiner bleibt vor ihr verschont. „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus“, schrieb schon Nietzsche. Aber gehört die Zeit wirklich zu den zwei größten Tyrannen der Erde, wie der Philosoph Johann G. Herder es formulierte? Wie nehmen wir Zeit überhaupt bewusst wahr? Und was für ein Zeitempfinden hat unserer Körper? Ein paar Antworten und Denkanstöße soll dieser Text geben.


DIE ZEIT-GENE

Hätten wir bloß diesen einen sechsten Sinn. Aber unsere Ahnen brauchten ihn nicht. Für sie war es ohne Belang, ob man 10 Uhr oder 11 Uhr Tiere jagen ging. Doch wäre heute ein Sinn für das Vergehen der Zeit sehr von Nutzen. Den Bus könnten wir dann nicht mehr verpassen...


Ein Versuch

Um zu erfahren, wie wir Zeit empfinden, unternahm der französische Geologe Michel Siffre einen mutigen Versuch. Er stieg im Jahr 1962 in eine Höhle hinab, ohne Uhr und ganz allein. Er wollte herausfinden was geschieht, wenn nichts geschieht. 130 Meter unter der Erde ist der 23-Jährige mit einer Tonne Verpflegung und einem Funktelefon ausgerüstet. Eine Taschenlampe spendet ihm etwas Licht, damit er sich Notizen machen kann, doch Strom ist kostbar und deshalb verbringt der Forscher die meiste Zeit im Dunklen. Mit dem Telefon berichtet er, wann er aufsteht, wann er sich in seinen Schlafsack legt und wie lange er im Dunkeln gesessen zu haben glaubt. Nach kurzer Zeit geht ihm das Gefühl für die Zeit verloren. Eine Spinne, die sich auch in der Höhle aufhält, ist das einzige Lebewesen außer ihm. Er beginnt sie als Freundin zu betrachten und unterhält sich mit ihr. Als er aber beginnt sie mit seinem Dosenessen zu füttern, verendete die Spinne. Er hört sich Musik an, um die Stille und Einsamkeit etwas zu mindern. Wenn die Platte einmal gespielt wurde, sind 45 Minuten vorbei. Doch tritt die Stille wieder ein, verliert er wieder jegliches Gefühl für die Zeit. „Wenn ich zum Beispiel nach oben telefoniere und durchgebe, wie spät es meiner Meinung nach ist, und glaube, dass nur eine Stunde zwischen dem Aufstehen und dem Frühstück vergangen sei, kann es genauso gut sein, dass es vier oder fünf Stunden waren“, schreibt Siffre. Sein Einziges Vergnügen ist die Vorfreude auf das Einschlafen. Obwohl er mitunter nicht einmal mehr Schlaf von Wachen unterscheiden kann. „Ich habe das Gefühl, regungslos zu sein, und doch fühle ich mich vom ununterbrochenen Fluss der Zeit davon gerissen,“ notiert er in sein Tagebuch. Nach 61 Tagen wird der völlig aufgezehrte Michel Siffre aus seiner Höhle geborgen. Doch sein Kalender sagt, dass er erst 36 Tage unter der Erde verbracht hat. Der Forscher kann nicht glauben, dass ihm 25 Tage entgangen sind. Aber nur Siffres Bewusstsein trügt. Sein Organismus hat sich einen genauen Rhythmus eingeprägt. Sein Tag dauerte stets vierundzwanzigeinhalb Stunden; acht schläft er, sechzehneinhalb verbringt er wach.


Die Zentraluhr

Siffres Versuch wurde nachgeahmt. Und alle Ergebnisse ergaben mehr oder weniger das Selbe. Die Menschen haben einen Rhythmus von 24½ bis 26 Stunden. Blutdruck und Hormone regeln die Zeit unseres Körpers. Bestimmte Gene produzieren Eiweiße, und wie bei einer Sanduhr werden die Zellen nach dem Zerfall der Eiweiße gestellt. So hat jede Zelle ihre eigene Uhr. Die Zentraluhr ist im Gehirn; ein reiskorngroßer Nervenknoten. Dieser Knoten schickt in etwas mehr als 24 Stunden elektrische Reize aus. Die Spanne ist angeboren. Jeder kennt sie. Die einen gehen lieber zeitig ins Bett und stehen früh auf, die anderen lieben dem Abend und ihr Frühstück erst zur Mittagszeit. Lerchen und Eulen, unterscheidet der Volksmund diese Menschen. Lerchen (Frühaufsteher) haben einen kürzeren biologischen Tag, als die Eulen. Das Sonnenlicht kann unsere innere Uhr stellt. Es würde Eulen helfen, am Morgen und Vormittag viel Licht zu bekommen, um schneller in Schwung zu kommen. Lerchen hingegen, wenn sie in Abend- und Nachmittagsstunden etwas Zeit im Sonnenlicht verbringen. Sie können dann am Abend aktiver sein. Natürlich kann man den angeborenen Rhythmus nur in einem bestimmten Rahmen verschieben.

Durch einen falschen Tagesablauf, so haben Mediziner herausgefunden, können psychische und körperliche Leiden verstärkt oder ausgelöst werden. Besonders Schichtarbeiter sind davon betroffen. Arbeitsunfälle, Schlafstörungen und Herz-Kreislauf-Krankheiten treten gehäuft auf und sind vor allem bei Ärzten ein großes Problem. Der Jetlag ist auch ein Problem, weil sich eben der Körper längst nicht so schnell auf die Umgebung anpassen kann, wie wir es gern hätten. Obwohl wir schnell merken, dass es uns nicht gut geht, wenn wir gegen unseren Körper handeln, zeigt ein Experiment in Wolfsburg, dass wir es doch tun, aber für Geld! In Wolfsburg waren die Arbeiter nicht bereit die lukrativen Nachtschichten aufzugeben. Lieber arbeiteten sie nachts, bekamen dafür mehr Geld, auch wenn sie das nicht lange aushielten.

Neben dem Gefühl für die Zeit, die unser Körper uns vorgibt und somit von unserem Bewusstsein weitestgehend unberührt ist, steht das Gefühl für den Moment oder für eine Zeitspanne.


DIE INNERE ZEIT

»Jede Stunde erschien mir wie ein Jahr.« Nelson Mandela

Eine Stunde, wartend auf den Zug, vergeht sehr langsam; der Augenblick wird, wie Kahil Gibran sagt, zur Ewigkeit. Eine Stunde im Kino jedoch, oder bei einer spannenden Konversation, läuft uns davon. Das kennen wir. Doch woher kommt es, dass gerade die schönsten Stunden so schnell verronnen sind? Können wir vielleicht gute Momente bewusst verlängern?


Bewegungen

Hirnforscher bemerkten, dass besonders zwei Regionen in unserem Gehirn beim Empfinden der Zeit aktiv sind. Beide Regionen sind auch für unsere Bewegungen verantwortlich, sowie für den „Taktschlag“ im Gehirn (damit alle Bereiche aufeinander abgestimmt arbeiten können). Die Vermutung liegt nahe, dass wir die Länge eines Ereignisses daran messen, wie wir uns bewegen. Aber nicht nur wie wir uns bewegen, auch was in unserer Umgebung passiert, hat auf unsere Wahrnehmung eine entscheidende Wirkung, denn unser Gehirn macht die Bewegungen virtuell mit. Wenn sich etwas langsam bewegt, vergeht die Zeit für uns auch verlangsamt; schnelle Bewegungen hingegen munkeln uns vor, dass die Zeit schneller vergeht. Bestätigt hat dies die Beobachtung, dass Tai Chi oder Schattenboxen das Zeitempfinden stark verlangsamen können, auch für den Zuschauer. Wir haben gelernt, in einer Sekunde, passiert so und so viel. Geschieht aber weniger, so schließen wir irrig, es sei also auch nicht so viel Zeit vergangen.


Aufmerksamkeit

Jedoch stärker, als die Bewegungen in unserer Umgebung, können wir mit unserem Bewusstsein unser Zeitempfinden verändern. „In Momenten hoher Anspannung richtet sich das Augenmerk verstärkt auf alles, was Informationen über das Vergehen der Sekunden verspricht. Die Zeitwahrnehmung wird geschärft; man sehnt sich ja danach, dass die unangenehme Erfahrung bald enden möge.“ (Stefan Klein, Philosoph). Durch unsere Konzentration auf die Zeit, vergeht diese langsamer. Sportprofis nutzen (unbewusst) darauf aufbauende Tricks, um besser spielen zu können. So sehen Tennisprofis den Ball eher langsam auf sich zu fliegen. Ihre innere Uhr hat sich ein wenig verstellt. Die Folge ist, dass sie gefühlt mehr Zeit haben, sich für den nächsten Schlag vorzubereiten. Gerade wenn wir auf etwas warten, uns unwohl fühlen oder langweilen, dann ist unsere Aufmerksamkeit fixiert auf all die Zeichen, die das Vergehen der Zeit anzeigen. Wartezeit kann man sich dadurch verkürzen, dass man sich in Gedanken mit irgendetwas beschäftigt. Tagträumereien, zum Beispiel, oder eine Denksportaufgabe lenken von der Zeit ab. Und sie scheint wieder etwas schneller zu vergehen.

So ist es auch in den schönen Stunden. Wenn wir von etwas begeistert sind, von einer Sache ganz und gar gefangen und glücklich, dann verwenden wir kein Jod Kraft darauf, an die Zeit zu denken. Auch wenn wir uns mit vielen Dingen gleichzeitig beschäftigen, entgehen uns die Signale für das Vergehen der Zeit. Dann beginnt sie für uns zu Rasen und der „Augenblick vergeht wie im Fluge“. Der römischer Schriftsteller Plinius der Jüngere formulierte das treffend: „Jede Zeit verrinnt umso schneller, je glücklicher man ist.“ Warum die glücklichen, aufregenden Stunden, die kürzesten sind, scheint uns wie bittere Ironie. Aber wir sind dem nicht machtlos ausgeliefert. In Glücksmomenten mögen wir uns davor scheuen, der Vergänglichkeit entgegen zu schauen. Die Uhr ist uns verhasst, genauso wie jegliches Zeichen, was uns sagt, dass der Moment bald vorbei ist. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit von der Zeit ab und gerade deshalb scheint sie uns kürzer. Doch wer lernt, den Moment zu schätzen, der kann die Zeit bremsen. So wie die amerikanische Dichterin Joyce C. Oates sagte: „Zeit ist das Element, in dem wir existieren. Wir werden entweder von ihr dahin getragen oder ertrinken in ihr.“ Im Moment zu leben, ohne Vergangenheit und Zukunft aus den Augen zu lassen, gehört zu den größten Künsten, die es für den Menschen zu erlernen gilt. Denn dann ertrinken wir nicht in der Zeit.

»Unserer Krankheit schwer Geheimnis schwankt zwischen Übereilung und Versäumnis.« Goethe


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