Essays zum Thema »Zukunft« (Auswahl)

Aus Jugendsymposion
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Essays zum Thema »Zukunft« (Auswahl)

Thema 1
Gibt es ein Erinnern für die Zukunft oder kann nur das Vergessen den Freiraum schaffen, in dem Zukunft sich ereignen kann?

Nehmen wir an, wir würden vergessen, was sich kulturell vor unserem eigenen Leben ereignet hat und mit einem freien Blick der Zukunft unvoreingenommen und naiv entgegen treten. Frei und unbeschwert wie ein Kind, ganz in der Gegenwart lebend!
Wie sähe unsere Gesellschaft heute aus, wenn wir die bisherigen Kenntnisse über die Weltgeschichte, jegliche Traditionen, Religionen und Kulturen nicht mehr erinnern und aufrecht erhalten könnten, ohne den Glauben, der vielen Menschen Hoffnung und Lebenskraft schenkt? Wären wir zu demselben Menschen geworden der wir heute sind? Was wären die Werte, die unserem Leben Sinnhaftigkeit und Tiefe gäben? Die Verbundenheit mit der Vergangenheit prägt unser Leben und jede Persönlichkeit gravierend. In der Gegenwart lebend, erinnern wir in jedem Augenblick unsere Vergangenheit, aus welcher wir die Zukunft schöpfen und mitgestalten.

Gibt es also ein Erinnern für die Zukunft?
Eine Überlegung, die erst einmal widersprüchlich klingt: Das Erinnern ist ein Vorgang, in dem vergangene Ereignisse, Eindrücke und Erlebnisse in Gedanken bewegt werden und so in der Gegenwart lebendig erhalten bleiben. Die Zukunft ist definiert als ungewisses Bevorstehendes. Kann trotzdem eine Verbindung zwischen diesen beiden Polaritäten bestehen? Wie können wir diese in Worte fassen?
In der Grammatik wird hierfür das Futur 2 verwendet (Beispiel: ich werde getan haben) um eine abgeschlossene Zukunft zu beschreiben... oder viel eher eine zukünftige Vergangenheit?

Kann Erinnerung auch die Zukunft blockieren?
Gedanken an vergangenes können sehr Platz einnehmend sein und den Visionen der Zukunft wenig Freiraum lassen. Beispielsweise, wenn man mit einem Ereignis wie dem Tod eines Freundes oder der Trennung eines Partners nicht abschließen kann und gedankenversunken an Erinnerungen hängt, anstatt tatkräftig die Gegenwart zu ergreifen. Ist man so sehr auf Vergangenes fixiert, so kann dies Schwierigkeiten bereiten, den Blick nach vorne zu wenden, um sich weiterentwickeln zu können. Um Freiraum für die Zukunft zu schaffen, muss man sich distanzieren und die Situationen loslassen.
In der Biologie sehen wir, dass Entwicklung nicht ohne den Tod stattfinden kann. Ein Beispiel hierfür ist die die Entwicklung vom omnipotenten und somit unsterblichen Einzeller zur Volvox. Durch eine Differenzierung wurde der Einzeller sterblich, jedoch auch höher entwickelt und leistungsfähiger. Hier zeigt sich, dass zur Entwicklung auch das Zurücklassen gehört und die damit verbundenen Verluste.

Erinnerungen, die ein festes Bild hinterlassen können sich auch negativ auswirken und den Freiraum einschränken. Dieses geschieht, wenn Vorurteile eine unvoreingenommene Begegnung verhindern und der Betroffene nicht die Möglichkeit hat, seine Persönlichkeit so zu zeigen, wie er es möchte. Er ist in seiner Freiheit eingeschränkt, Veränderung zu zeigen, weil er damit den Erwartungen des Gegenübers nicht gerecht wird. Beispielsweise kann es vorkommen, dass ein Deutscher im Ausland moralisch verurteilt und mit kritischen Blicken beobachtet wird, da seine Herkunft schnell mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wird. Diese Assoziationen können auch sehr Unterbewusst geschehen, ohne jegliche Absicht der Diskriminierung. Der Deutsche jedoch ärgert sich möglicherweise darüber, dass er für die Taten seiner Vorfahren verantwortlich gemacht wird. Und trotzdem trägt er ein Stück der Kollektiv-Scham in sich, das Wissen von der Brutalität und Ungerechtigkeit im sogenannten Dritten Reich. Auch dieser Zeitabschnitt gehört zur Geschichte seiner Nationalität und darf unter keinen Umständen vergessen werden: Aus Respekt und Mitgefühl gegenüber jenen, welche ihr Leben verloren haben und jenen, welche viele Jahre unter grausamen Bedingungen zu überleben versuchten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass durch das Erinnern mögliche Wiederholungen vermieden werden können. So lernen wir schon im Kleinkindalter, dass man aus seinen Fehlern lernen kann. Der erste Schritt hierzu ist die Selbstreflexion. Durch diese Fähigkeit ist es dem Menschen möglich, bewusste Entscheidungen für die Zukunft zu treffen, basierend auf Lebenserfahrung, Erinnerungen an Vergangenes.

Damit haben wir nun die Notwendigkeit und Funktionen des Erinnerns ergründet. Folglich stellt sich die Frage, welche Auswirkungen das Vergessen für unsere Zukunft hat.

Was wäre der Alltag ohne das Vergessen? Wenn jeder Eindruck und jede Information im Gedächtnis gespeichert würde? Durch das Vergessen der unwesentlichen Dinge können wir Essentielles herausheben und bewahren. Das Vergessen ist nicht aktiv zu regulieren. Je mehr man versucht, etwas unbedingt zu vergessen, desto fester wird es im Unterbewusstsein gespeichert.

Vergessen kann eine Reaktion des Selbstschutzes sein, schlechte Erfahrungen können nach einiger Zeit in Vergessenheit geraten und die Aufmerksamkeit wieder nach vorne, in die Zukunft gerichtet werden. Unterbewusst ist die Erfahrung jedoch noch präsent und kann weiterhin Auswirkungen auf die Zukunft haben.

In der Waldorfpädagogik wird das Vergessen als Methode genutzt: Es wird in Epochen unterrichtet; nachdem ein Thema intensiv behandelt wurde, lässt man es einige Zeit ruhen. Somit verschwindet das angeeignete Wissen möglicherweise aus dem vordergründigen Gedächtnis, wird aber im Unterbewusstsein gespeichert und erreicht damit mehr Tiefe. Durch eine kurze Wiederholung können dann viele dieser Informationen wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Unbewusstes Vergessen und bewusstes Erinnern verschmelzen miteinander in der Gegenwart.

Prägt unterbewusstes Erinnern also auch unsere Zukunft?
Könnte dann auch das Vergessen, das Verlieren aus dem bewussten Gedächtnis, unsere künftigen Entscheidungen prägen?
Traumatisierende Erlebnisse beispielsweise, welche sich in der frühkindlichen Zeit eines Menschen ereignen, auf die das bewusste Erinnerungsvermögen keinen Zugriff hat, prägen dennoch die Persönlichkeit in ihrer Entwicklung. Somit ist Erinnerung mehr als das, was wir wahrnehmen und die Wirkung des Vergangenen größer als wir uns vorstellen können. Die Hypnose ist eine Kunst, die sich mit dem Unterbewusstsein befasst, um dort heilen zu können. Ziel ist es, mit dieser Methode Traumata zu verarbeiten, beziehungsweise ihre Ursachen zu ergründen und zu analysieren. So können zum Beispiel Ängste vermindert oder gänzlich geheilt werden, indem die Vergangenheit im Unterbewusstsein aufgearbeitet wird.
Das Unterbewusstsein ist ein sehr persönlicher Bereich. Der äußere Zugriff darauf kann auch negatives bewirken und den Menschen manipulieren. Die Werbebranche nutzt diese Empfindlichkeit aus, schleicht sich in unser Unterbewusstsein ein und beeinflusst unsere persönlichen Entscheidungen, beispielsweise bei der Wahl der Zigarettenmarke. Wenn ich jedes Mal die L&M- Zigarettenwerbung sehe, die an der Bushaltestelle vor dem Haus eines guten Freundes hängt, mit den Abbildungen schöner Urlaubsorte, ohne dies bewusst wahrzunehmen, so wird im Laden vor der Kasse der Anblick dieser umworbenen Zigarettenpackung in mir ein bekanntes, positives Gefühl auslösen und mich möglicherweise dazu verleiten, genau nach dieser Marke zu greifen.

Sind bei einem Gedächtnisverlust, etwa wenn ein Mensch aus einem tiefen Koma erwacht, die verlorenen Erinnerungen unwiderruflich verlohren? Kann in solchen Fällen auch das Unterbewusstsein nicht mehr ins Gedächtnis gerufen werden? Und wie Umfangreich ist die Veränderung der Entwicklung im weiteren Verlauf eines solchen Menschen? Oder das gegensätzliche Phänomen: Kennen Sie Déjà-vus aus ihrem Alltag? Wenn Ihnen eine Situation so vertraut vorkommt, dass man meinen könnte sie schon einmal erlebt zu haben? Dies ist eine Unterbewusste Erinnerung, ob an ein vergangenes Leben, ein verbindendes Gefühl, eine Erinnerung an die Vergangenheit oder an Visionen, ist ungewiss.

Rückblickend stellt sich nun die Frage:
Gibt es ein Erinnern für die Zukunft, oder kann nur das Vergessen den Freiraum schaffen in dem sich Zukunft ereignen kann? Sind Zukunftsgedanken überhaupt möglich, ohne ein Erinnerungsvermögen? Wenn dies nicht möglich ist, wie würde sich der Mensch dann noch vom Tierreich abheben? Es ist das Bewusstsein, das den Menschen von der Tieren unterscheidet, die Selbstreflexion. Und zu dieser Reflexion gehört das Erinnern, nur so ist Entwicklung für die Zukunft möglich.

Zusammenfassend ist es also unsere Aufgabe, aus vergangenen Erfahrungen die Zukunft zu schöpfen, welche von lebenserfüllenden Visionen geleitet ist.
Also lasst uns die Gegenwart so gestalten, dass wir uns gerne erinnern und dieser Erinnerung neue Lebenskraft gewinnen können. Denn ist es nicht unsere Vergangenheit, die unsere Persönlichkeit bildet, die das Ich in jedem so individuell macht?

R. Miorin-Bellermann



Thema 2
»Wir haben kein Wissensproblem, sondern ein Handlungsproblem.« Analysieren Sie unter Einbeziehung von Selbstbeobachtungen Gründe für das von dem Physiker und Wissenschaftsphilosophen Harald Lesch festgestellte Dilemma.

Schritt X und Schafe
Tausendmal war ich mit meinen Freundinnen schon in der Stadt. Wir Mädels tratschen, lachen viel und mögen Jungs mit knackigem Po. Wir machen uns gerne hübsch und schminken uns. In den vielen Regalen von Müller gibt dafür es eine Menge Auswahl, zum Beispiel: Wimperntusche. Welche, die lange Wimpern macht, eine für volle, eine wasserfeste, eine mit besonderer Bürste, eine, die überhaupt nichts taugt, eine, die die Wimpern zu Spinnenbeinen verklebt, eine mit biologischen Inhaltsstoffen, eine ohne Tierversuche und viele mehr. Die Frage ist: welche macht die längsten und schönsten Wimpern, denn einen atemberaubenden Wimpernschlag möchten wir alle. Ich teste ein Paar und hole Expertenrat von meinen Freundinnen ein. Es wird gefachsimpelt und hart kritisiert. Viele schneiden im Ranking ähnlich ab. Unterschiede gibt es beim Preis und bei der Qualität der Inhaltsstoffe. Die eine hat ein edles Etikett, die andere eins, das ziemlich „fancy“ und „retro“ aussieht. „Welche haben meine Freundinnen? Welche nehme ich? Oh kein Geld…Ahh die, die ist billiger. Aber nächsten Monat kann ich mir die von Maybelline kaufen, die gerade so gehyped wird.“ Eine Freundin schwört auf diese Mascara. Sie ist wasserfest für volle Wimpern und hat bei meinem persönlichen Beauty-Test „sehr gut“ abgeschnitten. Entschieden, die kaufe ich! Aber wie sieht es aus mit Hautverträglichkeit, Tierversuchen, Inhaltsstoffen und Co.? Mhm, also direkt darauf steht dazu jetzt nichts. Es ist kein Siegel zu erkennen. Teufel: „Gut gemacht, du hast echt eine Schöne gefunden, schau nicht auf die Inhaltsstoffe, die Anderen achten auch nicht auf die Siegel, mein Gott hast du schöne Augen mit der Mascara.“ Clara: „Meine Wimpern sind echt dreimal so lang. Warum werden Tierversuche überhaupt erlaubt?“ Teufel: „Keine Ahnung da kannst du aber echt nichts dafür, nachher noch MC Donalds?“ Clara: „Hab ich ein Hunger, Shopping ist echt anstrengend.“ Gewissen:“ Okay, ich habe jetzt lange genug zugesehen, so geht’s ja wirklich nicht, MC Donalds? Dein Ernst? Clara leg‘ die Wimperntusche jetzt weg, du hast doch sowieso noch eine!“

Clara legt die Wimperntusche weg. Sie geht aus dem Laden und ist erleichtert: Wenn das Gewissen nicht gekommen wäre, hätte ich die echt gekauft. Sie geht weiter mit ihren Mädels, die andere kennen das schon von ihr. Jaja Clara und ihr Öko-Tick. Sie tratschen, lachen viel und mögen Jungs mit knackigem Po. Das Gewissen ist eigentlich eine altbekannte Freundin. Sie nervt mich, weil sie mich immer gleich verurteilt, wenn ich mal etwas mache, was sie aus irgendeinem Grund nicht so gut findet. Aber als ebenfalls gute Freundin höre ich mir ihre Probleme und Zickereien an. Am Ende hat sie immer Recht. Dann bin ich echt froh, eine Freundin wie sie, zu haben. Wenn wir Streit haben, höre ich aber nicht auf sie, dann mache ich was ich will: Ist mir doch egal was die denkt, die blöde Kuh, echt keine Lust die ganze Zeit nach ihrer Pfeife zu tanzen. Immer dieses Verzichten, das habe ich manchmal einfach satt. Bin ich denn immer verantwortlich für alles was ich tue? Muss ich immer rational entscheiden? Warum werden so viele Sachen angeboten, die eigentlich kompletter Scheiß sind? Ich wäre dafür, dass einfach jemand all die schlechten Sachen aus den Regalen räumt. Ja, vielleicht gründe ich mal selbst eine Partei, der Wahlslogan: Schluss mit der ganzen Auswahl, kein Wirtschaftsliberalismus, wir sind zu dumm, um zu entscheiden, was gut ist und was wir wirklich brauchen. Wählt uns für ein neues System in dem man alles kaufen kann, was im Regal steht ohne Bedenken. Wählt uns, selbst die Dümmsten können alles ohne Bedenken kaufen. Oder wählt uns, wir führen Einkaufsberater ein; ein neuer Studiengang, hochkompliziert. Als Einkäufer kaufst du für andere Leute ein. Du hast zahlreiche akademische Abschlüsse, weißt wie jedes Produkt hergestellt wird. Aus welchen Inhaltsstoffen, wie diese wiederum hergestellt werden, von wem und unter welchen Arbeitsbedingungen. Du kannst ganz genau bewerten, welches Produkt gut und welches schlecht ist. Einkaufen ist nämlich eine hochkomplexe Angelegenheit. Da haben wir ein Wissensproblem. Überall lauert gefährliches Halbwissen, jeder weiß Bescheid. Aber am Ende ist die Sache so komplex, dass eigentlich fast niemand wirklich durchblickt. Man könnte über jedes Produkt auf dem Markt eine Forschungsarbeit schreiben und die Lebensgeschichte erzählen. Von der Idee, über den Hersteller und dem Nutzen oder Unnutz. Ich bin überfordert mit dem Einkaufen. Bei Lebensmitteln kann man sich noch halbwegs orientieren, da ist es wohl ein Handlungsproblem. Die Menschen wissen, dass es schlecht ist, aber kaufen es trotzdem. Jeder ist gegen Tierquälerei. Aber weiß jeder, was der wirkliche Unterschied zwischen artgerechter Nutztierhaltung und Massentierhaltung ist? Sicher nicht. Das Wissensproblem fängt spätestens bei Kleidung und vor allem bei elektronischen Geräten an. Da weiß Gewissen selbst mal nicht, was sie jetzt sagen soll. Aber auch wenn es nur einen „Gut“ und „Schlecht“ Siegel für alle Konsumartikel gäbe. Würden alle nur „gut“ kaufen? Steht auf den Zigarettenpackungen nicht auch quasi „schlecht“, oder bei jedem Nestle Produkt „Arschloch“. Gier frisst Gehirn. Wenn bei Germanys Next Topmodel die Schminkkoffer verteilt werden, drehen alle durch, ich hätte irgendwie auch gerne so einen. Wer hat überhaupt behauptet, dass der Mensch dazu fähig ist zu entscheiden, was er braucht und was nicht? Ist das nicht alles ein Trugbild der freien Marktwirtschaft? Sie behauptet, dass jeder Bürger dazu fähig ist, zu bestimmen, was er braucht. Nachfrage regelt den Markt. Jeder will hören, dass er wählen darf, frei ist und fähig, verantwortungsbewusst mit dieser Aufgabe umzugehen. Aber was, wenn wir eigentlich zu blöd oder regelrecht überfordert damit sind? Es könnte ein Gemütlichkeitsproblem sein. Der Mensch ist zu gemütlich und möchte seine Gewohnheiten nicht ändern, geschweige denn viel nachdenken und immer wieder abwägen, was das Richtige ist. Der Gewohnheit nachgehen ist viel leichter. Ich weiß selbst wie schwer es ist, alte Gewohnheiten abzulegen. Meine Oma ist auf einem Bauernhof aufgewachsen und weiß wie mühsam es ist, Ackerbau zu betreiben und dass man gut mit Mutter Erde umgehen muss und überhaupt wie wichtig die Natur ist. Auch wie viel Arbeit es macht Nutztiere aufzuziehen. Trotzdem kauft sie bei Aldi das Billigfleisch. Es gibt tausende von Beispielen, die zeigen: Mensch sein heißt irrational sein. Durch meine Eltern, die Meister sind im Gegen-den-Strom-Schwimmen, bin ich, so denke ich, so gut mit Gewissen befreundet. Sie weiß meistens, was richtig und falsch ist, weil sie das Meiste von meinen Eltern gelernt hat. Ich habe von meinen Eltern gelernt, Wissen in Handeln umzusetzen. Vielleicht ist es Gewohnheit, vielleicht aber auch ein besonderer Gendefekt? Wie bereits erwähnt, ich schaffe es mal mehr mal weniger, es ist ein beständiger Kampf. Viele lange Diskussionen mit Gewissen-ein ungemütlicher Weg, aber mein Kampfwille ist da. Dieser Vorgang, wenn aus Wissen Handeln wird, wenn Wissen beurteilt und unter die Lupe genommen wird, wenn man Wissen abwägt, sich eine Meinung bildet und dann daraus folgernd logisch handelt- wann passiert er und was spielt mit hinein? Manipulationen, Gier, Gewohnheiten, Mainstream? Ist es ein Handlungsproblem oder eine grundlegende Fähigkeit, zu der manche Menschen gar nicht im Stande sind. Es gibt Leute, die mit Überleben beschäftigt sind. Die meine ich nicht. Ich meine die Leute, die Raum hätten ihr Wissen und Handeln in Schritt X zu verbinden. Wann passiert bei denen und bei mir der Vorgang, wenn man das Wissen in die Handlung miteinbezieht? Ist es überhaupt eine Kausalkette: wenn Wissen, dann Handeln? Eine unbestimmte Anzahl Menschen hat einen Drang zu Handeln und ihre Neugier mit Wissen zu befriedigen. Kann man diesem Drang getrennt voneinander nachgehen und das dazwischen weglassen? Kann man Handeln mit körperlicher Aktivität gleichsetzten? Ich persönlich lerne in der Schule. Mein Wissensdrang ist mehr als befriedigt. Nach der Schule gehe ich tanzen. Das befriedigt meinen körperlichen Drang. Ich habe wenig Energie mich für anderes Einzusetzen. Hauptsächlich, weil ich keine Zeit habe. Da ich Körper und Geist aber auslaste, habe ich auch kein Verlangen nach Anderem. Könnte es sein, dass es Menschen gibt, die sich auslasten und kein Drang mehr haben den Zwischenschritt zwischen Wissen und Handeln, Schritt X auszuführen? Wenn ja, wo kommt das her?

Vielleicht in den jungen Jahren antrainiert. Gelernt Wissen in eine Schublade zu stecken, deren Inhalt nicht in das praktische Leben miteinbezogen wird. Zu viel Wissen aufgeladen, dass man in der praktischen Anwendung nicht braucht? Gelernt das Gelernte in ein Hinterzimmer des Gehirns zu verbannen. In eine Schublade die mich nichts angeht. Zu viel unpersönliche Dinge gelernt. Was hat das denn alles mit mir zu tun? Interessiert mich vieles nicht. Zu oft erlebt diesen Moment. Wenn das Wissen nichts mit einem zu tun hat, sondern mit anderen. Andere haben entschieden, dass ich das Wissen muss, um schlau zu sein. Wenn ich das kann, ist es sehr gut. Also lerne ich es für die Ausdenker in die Schublade hinein? Eine Fabrik in Bangladesch ist eingestürzt weil die Sicherheitsvorkehrungen nicht genügend waren. Die Näherinnen bekommen einen Hungerlohn und müssen unter schlimmsten, unmenschlichen Bedingungen arbeiten, weil angeblich die Nachfrage nach billiger Kleidung das erzwingt. Die Nachfrage sind wir. Auch in der Schule haben wir das gelernt. Ein Thema was bei mir zuhause schon oft besprochen wurde, jeder weiß davon. Gewissen weiß ganz genau davon. Alternativen wurden besprochen: Flohmärkte, geringerer Konsum, alternative Einkaufsmöglichkeiten. Es war einmal eine Clara und ein Klassenkamerad, die zusammen einkaufen gingen. Sie wanderten wunderwitzig durch alle Läden in ihrer Stadt. Clara hatte sich in eine Hose verliebt, die sie bereits zum dritten Mal anprobierte. Sie hatte sie noch nicht gekauft, weil sie Gewissen nicht gefiel: Qualität gut, keine Billigware. Clara testete die Kompromissbereitschaft von Gewissen. Der Klassenkamerad indessen kaufte sich 4 Pullis und 7 T-Shirts. Weil er gerade Lust bekommen hatte. Er war dabei gewesen, als wir in der Schule lernten, wie kommerzielle Kleidung hergestellt wird. Clara war überrascht und fragte schüchtern: „Denkst du als an die schlimmen Arbeitsverhältnisse der Näherinnen, wenn du etwas kaufst?“. Der Kamerad antwortete: „Nö so etwas interessiert mich eigentlich nicht“. Wir haben kein Wissensproblem, sondern ein Handlungsproblem war das Statement. Ich würde sagen, das Problem ist Wissen und Handeln zu verbinden und nicht wie Schafe der Herde hinterher zu rennen. Es gibt eine Frage, die ich, rückblickend auf den Text, stellen möchte: Was ist die Handlungskonsequenz der aufgelisteten Fragen und des aufgelisteten Wissens? Im Allgemeinen wäre die Lösung für mich keine Beschneidung der Freiheit. Denn das führt zu nichts. Außerdem dürften nicht die Unfähigen das Problem im System sein. Sondern diejenigen, die verführen und manipulieren, die einen Fehlkauf überhaupt möglich machen. Es sollte Freiheit für alle da sein: Mensch, Tier, Umwelt. Denn die Herstellung eines Produktes, das menschenverachtend oder umweltbelasten ist und Tierquälereien mit sich bring, hat die Freiheit derer, die darunter leiden beschnitten. Wenn das bei keinem Produkt der Fall wäre, könnte man alles bedenkenlos kaufen. Jeder wäre frei und doch so beschränkt, dass er anderen durch seine Unfähigkeit kein Leid zufügt. Das wäre die Ideallösung. Um diese anzustreben braucht es viele schwarze Schafe und Leute mit Gendefekt, die andere dazu inspirieren können ihre Schubladen zu öffnen. Meine persönlichen Ambitionen sind, mich nicht für jeden Fehlkauf/Fehlverhalten zu verurteilen, aber dennoch eine gesunde Balance mit Gewissen zu finden und auch zu versuchen, Schubladen von anderen zu öffnen, obwohl es schwer ist, denn die meisten geben den Schlüssel nicht gerne heraus. Vielleicht führt es ja irgendwann zum Untergang der Menschen, dass Schritt X nicht von allen gemacht werden kann.

Vielleicht ein bisschen extrem gemacht aber wenigstens selbst gedacht, welch Wunder wurde da vollbracht…

Clara Hilscher


Thema 3
»Der Mensch ist nichts an sich. Er ist nur eine grenzenlose Chance. Aber er ist der grenzenlos Verantwortliche für diese Chance. « - Albert Camus

Verantwortung des Selbst
Die wohl gefährlichste Frage, die einem Menschen vorgebracht werden kann, ist nebst derer, die ihn nach der Absurdität des Lebens befragt, diejenige, welche in Erfahrung bringen will, welche Verantwortlichkeit das bewusste Individuum trifft, für dasjenige was es vollbringt und noch viel mehr für jenes, das gar nicht erst begonnen wird. Camus‘ Aussage zu jenem Thema soll der Initialgedanke für diesen Essay sein und Sisyphos, der mit ihm allzu häufig in Verbindung gebracht wird, einmal beiseitegelassen werden. Er wird es uns verzeihen.
Die eingangs erwähnte Gefährlichkeit diente nicht dem Ringen nach Aufmerksamkeit in den Bergen aus Veröffentlichungen zu dem Thema Verantwortlichkeit des Menschen, sondern betrifft seine Existenz unmittelbar. Denn wem Verantwortung zugeschrieben wird, dem ist ein hohes Maß der Selbstständigkeit zugesprochen und inwiefern diese ein Segen sein kann, bleibt noch im Ungewissen. Die Verantwortlichkeit des Menschen zu ermitteln, oder zumindest einige interessante Gedanken über sie zu präsentieren – was wohl seit jeher die Aufgabe der Philosophie war, die abgesehen von der ontologischen und von Frege und Wittgenstein erweiterten Logik, nie ein beweisbares Resultat von allgemeiner Gültigkeit hervorbrachte – sei als Intention dieses Essays gesetzt. Eingrenzend soll dazu bemerkt werden, dass es aus formalen Gründen nicht möglich ist, auf tiefsinnigere Konnotationen des Zitates von Camus einzugehen, obgleich er wohl zu denjenigen Denkern gehört, bei denen es sich als lohnenswert erweist, sich ihre Werke auf der Zunge zergehen zu lassen.
Nun mitten hinein in die drei Sätze. Der Existenzialist aus Frankreich möchte seinen Lesern vorbringen, dass sie nichts an sich seien. Ist das ein impliziter Vorwurf? Nein, stattdessen das Absprechen aller dem Menschen zugehörig geglaubten Aspekte, welche sich nicht in seinem durch die Tat zum Ausdruck gebrachten Potenzial verwirklichen. Grenzenlos sei diese Chance und ebenso wie sie auch die Verantwortung für das durch die Tat Geschaffene.
Camus scheint mir ein wenig optimistisch zu sein mit seiner Chance, denn die Grenzenlosigkeit könnte sich nicht auf dasjenige beziehen, was selbst endlich ist. Das Selbst ist endlich. Dafür sind keine weiteren Beweise darzubringen als diejenigen, welche erkannt werden, wenn ein offenes Auge durch die Welt blickt. Obgleich ich dazu geneigt bin, ihm bezüglich der Verantwortlichkeit zu affirmieren. Doch bliebe zu erfragen, inwiefern dem, das nichts an sich ist, Verantwortung zukommen könnte. Denn wäre ihm diese von Anfang an zugeschrieben, so wäre der Mensch auch nicht nichts an sich. Camus kann also diesbezüglich nur so interpretiert werden, dass sobald eine Tat vollbracht wird, die Verantwortung für sie einkehrt. Auf diese Weise wäre es ein Leichtes, der Verantwortung durch die Untätigkeit zu entrinnen. Doch da der Mensch als solches ein Potenzial ist, trüge er auch Verantwortung für seine Passivität. Woraus ein möglicher Widerspruch bei Camus (innerhalb dieses Ausschnitts) folgte, da die Verantwortung sich mit dem die Welt erblickenden Kind gebären würde. Der Mensch ist nach Camus also nichts als Verantwortung mit grenzenlosem Potenzial, doch über dieses verfügt er als endliches Wesen nicht. Es sieht düster für uns aus.
Damit wären wir bei einem dieser Probleme, die nur diejenigen haben, welche die Möglichkeit haben, sich solchen Gedanken hinzugeben. Die Problematik die darin liegt, ist, dass derjenige, der sich mit solcher Philosophie beschäftigt, nicht aus einem Elfenbeinturm blickt, sondern selbst in der Welt involviert ist und nun scheinbar auch noch Verantwortung dafür tragen muss. Wie können moderne und postmoderne sozioökonomische und politische Entwicklungen auf ein Fundament der Verantwortung gestellt und welche Maßstäbe können für sie angesetzt werden? Der Denker mag seiner Gedanken Rechenschaft über seine Taten schuldig sein, nicht aber der Täter, welcher sich in einem deutlich extremeren qualitativen Ausmaß in der Wirklichkeit manifestiert, als der Philosoph.
Dies ist eine Problematik bezüglich der Umsetzung von Verantwortlichkeit. Es könnten nun lange Debatten über moralische Zukunftsentwicklungen folgen, über das Unrecht auf der Welt und über mögliche Abgründe und Krisen auf die wir uns durch unser Handeln zubewegen. Doch bedürfte es keiner Lehrstühle für Ethik um festzustellen, dass es Probleme auf einer Welt mit etwa 795 Millionen hungernden und parallel dazu mit 64 Menschen, die so viel besitzen, wie die Hälfte der Menschheit gibt. Es ließen sich zahlreiche weitere Probleme der Zukunftsentwicklung anschließen, doch ist die eigentliche Problematik nicht das denkerisch zu lösende Problem, sondern die Handlung derjenigen, die Einfluss nehmen könnten. Und das sind nicht die Philosophen.
Es gilt also sich davon zu verabschieden, die Welt im großen Ausmaß verändern zu können. Wer das glaubt, geht mit Platzverweisen der Polizei von Demonstrationen, die fordern, dass in leerstehende Gebäude Menschen einziehen sollten, die sonst erfrieren würden. „Der Mensch“ ist von Camus viel zu abstrakt formuliert. Viel direkter könnte die Gültigkeit seiner Aussage dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass „der Mensch“ zum „Selbst“ avanciert und die „grenzenlose Chance“ zum kurzen Leben mit eingeschränkten Möglichkeiten verkürzt wird. Immerhin beinhaltet dies auch einen Freispruch von zahlreicher Schuld, die man sich sonst auflüde. Doch nun sei die Frage nach der Verantwortlichkeit des eigenen Selbst für die Taten, welche begangen werden, gestellt. Nur wenn dieses frei wäre, könnte es auch grenzenlos frei sein. Dass dessen Möglichkeiten und Handlungsoptionen eingeschränkt sind, wird im täglichen Scheitern an dem Versuch den gesellschaftlichen Makrokosmos zu gestalten evident. Doch wie kann eine Verantwortlichkeit für das eigene Denken und für die daraus resultierenden Taten formuliert werden? Abgesehen von einigen lichten Momenten des Geistes ist dessen biologisches Fundament nicht selten durch triebhafte Bedürfnisse vielfältigster Art, die der Evolution entspringen, getrübt. Dies wirkt bis tief in die politische Willensbildung ein, wie Drew Westen zeigt, wenn er experimentell beweist, dass nicht der vernunftorientierte Teil des Gehirns (der für verstandesbetonte Entscheidungen notwendig wäre), sondern diejenigen Regionen, die für die Emotionen zuständig sind, welche dafür sorgen, im Sozialgefüge zu überleben, bei der politischen Willensbildung aktiv sind. Inwiefern sind wir also tatsächlich frei und nicht biologisch determinierte Maschinen (?). Postuliert den Fall, es gäbe die Möglichkeit tatsächlich auch gedankliche Freiheit zu erlangen (dies zum Ermitteln ist des Psychologen und Biologen Aufgabe, nicht die des Philosophen, welcher sich in spekulativer Metaphysik verlöre) und zu daraus resultierenden Handlungen, die der Verantwortung unterzogen werden könnten. Säße dieser Mensch in seiner Denkerklause oder hätte er entscheidenden Einfluss auf die Welt?
Sicherlich hätte er in der kapitalistischen Demokratie die Freiheit, das Vorgehen der Politik zu kritisieren. Doch gewiss nicht die Möglichkeit sie entscheidend zu beeinflussen. Dem steht die unreflektierte Masse gegenüber, die Parteien wählt, die nur dank gesponserter Wahlkämpfe die Legislative und Exekutive bekleiden und dementsprechende Interessenvertretungen vornehmen. Des Menschen Verantwortung kann sich also nur auf das Selbst in dem Maße beziehen, in dem es Handlungsfreiheit hat und in der Reichweite, die dessen Endlichkeit zulässt.
Am Ende bleibt bedingt die eigene Tat, welche sich so zu gestalten hätte, dass sie nach denjenigen Maximen verfährt, die im Kollektiv ausgerichtet zu einer verantwortlich gestalteten Gegenwart und Zukunft führen würden. Diese Erkenntnis ist der Schutz vor der Ideologie und Utopie und kann eine Basis für die Diskussion der Zukunft darstellen. Denn auch wenn die Verantwortlichkeit des eigenen Selbst auf dessen Taten begrenzt ist, bleibt die Verantwortung für die Welt, dessen Teil es ist, erhalten und somit auch die Möglichkeit im Sinne anderer Individuen und den unbewussten Teilen der Natur zu handeln. Doch halte ich es für unabdingbar, sich jene erläuterte Beschränkung im Bewusstsein zu halten, um nicht der illusionären Zukunftsvision zu verfallen und um das Appellieren an moralische Empfindungen anderer zu begrenzen, welches ins Leere läuft, wenn sich jene nicht ihrer Verantwortlichkeit bewusst sind. Denn diese tritt erst dann wirklich ein, wenn sie durch das selbst akzeptiert wurde und keine Zuschreibung an andere darstellt.

Rico André Schmitt


In seinem Werk „Der Mythos von Sisiphos“ vertritt Camus die Ansicht, dass es wohl unmöglich sei, je völlige Kenntnis über einen Menschen zu gewinnen. Sein Wesen ließe sich nur ansatzweise über das bekannte Verhalten und die Analyse seelischer Komponenten erfahren, wobei Letztere „praktisch definieren und praktisch bewerten“ würden, indem man „die Summe ihrer Folgeerscheinungen in verstandesmäßiger Ordnung zusammenfasst“. Diese Orientierung an empirischen Tatsachen zur Eingrenzung eines einzelnen Menschen scheint erst in Kontrast zur allgemeinen Definition des Menschen Camus` stehen, bei weiterer Betrachtung aber harmonieren diese beiden Thesen - gerade die Grenzenlosigkeit der menschlichen Natur, die Camus in dem Zitat benennt, induziert die Notwendigkeit der erfahrungsgestützten und retrospektiven Beurteilung einer spezifischen Person. Allerdings (und an dieser Stelle treffen sich die Darstellungen erneut) bleibe immer ein Teil verborgen und eben dieser wäre mit dem Potential gleichzusetzen, um das es in dem zentralen Zitat geht: Die unendlichen Handlungsmöglichkeiten der Zukunft machen eine exakte gegenwärtige Qualifikation unmöglich; die riesige Quantität überschwemmt die qualitative Klassifikation. Somit sind Charakterisierungen immer rückwärtsgewandt, denn in einer abstrakten generalisierten Formulierung setzt sich die Gegenwart aus dem bereits Geschehenen, also den Lehren der Vergangenheit, und einer gerichteten Zukunft, die das Wissen über den kommenden Weg implizieren würde, zusammen. Der zweite Part ist laut Camus nicht zu erfüllen, woraus das Geheimnis eines jeden Menschen spricht. Passend dazu ist eine weitere Stelle des gleichnamigen Buches, während deren Lesen ich mich sehr stark wiederfand: „Wenn ich nämlich dieses Ich, dessen ich mir so sicher bin, zu fassen, wenn ich es definieren und zusammenfassend zu bestimmen versuche, dann zerrinnt es mir wie Wasser zwischen den Fingern.“
Dies beleuchtete nun eins der drei inhaltlichen Elemente Camus` Feststellung: Das jeder Schranken entbehrende Potential, das dem Menschen innewohnt. Beinahe deckungsgleich, wenn man es so sehen möchte, ist dazu der nächste Punkt, das Nichtssein des Menschen in seinem Naturzustand. Die Deckungsgleichheit entsteht für mich bei dem Versuch, mich dem Phänomen des Nichts zu nähern. Das mangelnde Vorstellungsvermögen von Nichts mag evident sein, doch ein Merkmal zumindest wäre rational zuzuordnen und zwar die Grenzenlosigkeit, die einem Nichts zugeschrieben werden müsste. Insofern sind Nichts und Unendlichkeit synonym, denn sobald etwas eingegrenzt ist, wird es zu gerade jenem Etwas, das als solchen betitelt wird. Im humanen Bereich nimmt diese Begrenzungsrolle die Handlung ein, erst mit dieser erhält das omnipotente Nichts eine Form - vergleichbar mit Stammzellen, die sich zu jedem Zelltypus ausdifferenzieren können, in ihrem Ursprung ihr Wert aber ein zukünftiger ist. Was sich daraus als Essenz ableitet, ist der Zwang zu handeln, um zu werden, dem jeder Mensch unterworfen ist, das heißt die Ergreifung irgendeiner der unerschöpflichen Chancen. Sich nicht zu positionieren, beispielsweise in einer Meinungsumfrage, kommt einer Nichtexistenz gleich, da man im Ergebnis gar nicht aufgeführt würde. Die Momente, in denen ich mich am nichtigsten fühle, sind die, in denen ich nicht weiß, was ich will oder keine Stellung beziehe. Dieser Zustand suggeriert das Empfinden austauschbar zu sein, was durch das Extremszenario „Nichts“ bekräftigend pointiert wäre. Mir gefällt die Visualisierung des Lebens mit einer Art Lebensbuch sehr gut, woran sich auch zeigt, dass ganz zu Beginn die Bücher verschiedener (wenn sie sich auch später voneinander scheiden) Menschen identisch weiß wären. Die grenzenlose Chance zeigte sich in der ungeheuren Vielfalt von Worte, Formen, Farben, usw. mit denen diese Bücher gefüllt würden. Jedoch ist das Phänomen der Gleichheit, das hieraus als Realität hervorginge, mir ein sehr rätselhaftes, da ich nicht davon ausgehe, dass jeder gleich ist, gerade was seine Möglichkeiten angeht. Das reicht von physischen Voraussetzungen bis zu prädestinierten psychischen Zügen; bildlich gesprochen unterscheiden sich also die die zur Verfügung stehenden Materialen. Natürliche Differenzen sind nicht zu leugnen, doch im Sinne Camus geht es wahrscheinlich darum auch weniger als um die Überzeugung, dass jeder gemäß seiner individuellen Kondition grenzenlos in der Entfaltung sein kann, auch wenn es so scheint, als sei in dem ersten Satz des Zitats das Individuum vernichtet. Das Wort Entfaltung mag ebenfalls deplatziert wirken, da dem Nichts inhärente Entfaltungsmöglichkeiten wie ein Widerspruch in sich wirken, aber dies sei nur als Negation der Gleichheit, nicht aber der grenzenlosen Freiheit, die das Nichts an sich hat, gemeint. Klar ist hierbei nämlich, dass Camus von einer (vorerst) völligen Freiheit des Menschen ausgeht. Dies überschneidet sich mit einem Gedanken, der mir kam, bevor ich Camus` Formulierung kannte: Ist nicht jeder entsprechend seinen Eigenheiten so frei wie nur irgend möglich und das einzige Hindernis besteht in der Angst vor Konsequenzen? Man kann komplette Freiheit als Illusion oder unbedingte Wahrheit betrachten, die Diskussion darüber führt zum dritten Bestandteil Camus` Ansicht, nämlich dem Begriff der Verantwortung. Abstrahiert enthält das dreiteilige Zitat alle Tempora, der erste Satz ist als Beschreibung des Gegenwärtigen zu begreifen, die Chance bezieht sich prospektiv auf die Zukunft und die im dritten Satz genannte Verantwortung hat reflexiven Charakter, repräsentiert also die Vergangenheit. Und gerade in dieser grundlegenden Komposition besteht die wesentliche Dynamik des menschlichen Daseins, der in zeitlich terminiertes Wesen ist, allein dadurch, dass er von Vergänglichkeit behaftet ist. Bei jedem Jahreswechsel2 kommt es mir vor, als seien die letzten 365 wie verflogen und ich denke auf Basis der aktuellen Situation an die kommenden nächsten. Wenn gleichzeitig aber das Vergangene vor dem inneren Auge nochmal abläuft, steht über den bewertenden Tendenzen die Pflicht zur Erklärung bzw. der Verantwortungsübernahme. Verantwortung selbst ist weder positiv noch negativ konnotiert, sie besagt nur dass ich eine Antwort schuldig bin und mein zurückliegendes Handeln nicht durch die bloße zeitliche Distanz von mit getrennt ist. Die Zukunft ist demzufolge kein Raum, der bedenkenlos gefüllt werden kann bzw. darf, sondern vielmehr zum mir verbundenen Teil wird. Meine Zukunft wird zu meiner Vergangenheit und zwingt mich zu Rechenschaft. Retrospektiv praktiziert ist das einleuchtend, doch an diesem Punkt drängt sich in den heutigen Zeiten die Frage auf, was bei der Umkehr dieser Dynamik geschieht. Ein wenig bekanntes, doch dadurch nicht weniger brisantes ist das derzeitige Projekt Indect. Installierte Kameras z.B. in der Stadt schießen Fotos von Personen, die dann abgeglichen mit vorhandenen Daten werden. Mittels der Bestimmung eines Scores aus diesen Daten für die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, mit der jemand eine Straftat begehen wird, kann diese Person gezielt durch Drohnen überwacht werden, bis sie auffällig wird und direkt davon abgehalten werden kann, etwas zu tun. Was durch präventive Agitation Sicherheit verspricht, wirft schwerwiegende Fragen auf, die das Szenario der Verantwortung auf den Kopf stellen. Denn überspitzt gefragt: Was soll oder darf mit jemanden passieren, dem ein Algorithmus die 99%-ige Wahrscheinlichkeit voraussagt, dass er in den folgenden zwölf Monaten einen anderen umbringen wird?
Doch bei Camus geht es insbesondere um die eigene Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen und sich dieser bewusst zu sein. In diesem Feld ist es dennoch stets wichtig die Interaktionen mit anderen Personen nicht außen vorzulassen, denn mit beinahe jeder Handlung nimmt der Mensch Einfluss auf sei Umfeld und in seinem Schaffen ist er verändernd. Das schließt ein, dass die Bereiche zahlreicher weiterer Menschen tangiert werden oder in sie eindringen. Dadurch entstehen Bindungen sowie Abhängigkeiten, was bei Camus nicht auftaucht. Wenn ich mir zum Beispiel schade, dann betrifft das nicht nur mich, sondern die ganze Menge an Menschen, zu denen ich in Beziehung stehe, was ich schon häufiger erleben musste.
Der Mensch ist zwar für sich ein Individuum, doch niemals von den auf ihn einwirkenden Faktoren zu trennen.3 Somit hat er sich auch stets vor dem Kollektiv zu verantworten, was an den ersten Part Kants kategorischen Imperativs erinnert. Doch Camus verwendet das Wort Chance in Zusammenhang mit der Verantwortung, was dem einen anderen Duktus gibt, als Verantwortung nur rein retrospektiv einzuordnen. Der Chance wohnt ein potentieller Charakter inne, demnach liegen auch alle anderen Möglichkeiten als die, die gewählt wird, im eigenen Gewissen, das dann für oder wider entscheidet, was in der Grenzenlosigkeit zum Ausdruck kommt. Aber macht man sich verantwortlich oder ist man verantwortlich? Camus würde sich wohl zu Zweitem bekennen, was insofern interessant ist, als es gesamtgesellschaftlich anders zu sein scheint, dort ist man dem verpflichtet, das man getan hat. Aber reicht nicht allein schon die hypothetische Fähigkeit, um mit etwas in Pflicht zur Bekenntnis verwoben zu sein? Die Tat liegt zwar in der Zukunft, doch verantwortlich ist man vor allem für die bloße Chance und das immer, genau wie Camus sagt. Denn wenn Donald Trump die alleinige Verfügung über den Atomwaffeneinsatz hat, macht ihn bereits dieses „Können“ zum Zuständigen, der jederzeit Antwort darauf geben muss, wie er die Chance nutzt.
An der Stelle würde ich sagen, man sollte verantwortungsbewusst mit der riesigen Chance umgehen, denn sie ist genauso Teil von einem wie seine Vergangenheit und als Verantwortlicher in der Gegenwart gilt es, die Zukunft dem entsprechend zu gestalten.
Dass der Mensch zukunftsfähig ist, wurde bisher als gegebene Tatsache angenommen. Dem ist auch insofern zuzustimmen, als man an die Freiheit des Menschen glaubt. Doch sind Handlungsfreiheit und vollkommene Freiheit keine Synonyme. Beim Treffen von Entscheidungen unterliege ich dem Zwang, mich an bereits gesammelten Erfahrungen zu orientieren, was heißt, dass ich immer nur so frei bin wie mein Horizont reicht. Dies enthält zwei Erkenntnisse, nämlich dass ich zum einen gar nicht alles sehen kann, also zur Erfassung der Grenzenlosigkeit gar nicht fähig bin (wenn ich nicht alle Möglichkeiten kenne, ist meine Wahl beschränkt) und zum Anderen, dass ich geprägt bin von Normen und Dogmen, die meinen Verhaltenskatalog bestimmen4. Die fehlende Grenze ist somit zumindest in meinem Sinn eine Farce. Uns bzw. im engeren Sinne mich, da ich nur für mich richtig sprechen kann, schüchtert gerade diese Grenzenlosigkeit ein und die erschlagend wirkendende Chance macht mich zur Gefangenen des Evidenten. Einigen Zwängen oder Mustern gegenüber, denen ich folge, wüsste ich mich theoretisch in der Lage, sie abzuschütteln - ganz im Einklang zu der beschriebenen Chance. Aber weil ihre unerschöpfliche Diversität abschreckt, schaffe ich mich mit diesen Mustern meine Grenzen und versuche so, die Zukunft vorhersehbar zu machen. Mit Unendlichkeit lässt sich schließlich nicht kalkulieren. - Das ist sowohl auf die ganz persönliche Welt bezogen als auch auf das Funktionieren einer Gruppe, die über den Moment hinausreichende Regeln bedarf; ansonsten bestünde Chaos.5
Übergeordnet steht nun also die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Menschen bzw. enger gefasst die Frage nach der gestalterischen Fähigkeit des Menschen, der die Zukunft zu füllen hat. Da Camus davon ausgeht, dass diese erstmal grenzenlos vorhanden ist, das Gestaltete jedoch Teil des Ichs wird, stünde dies für die Auffassung, der Mensch könne alles tun, solange er dazu bereit ist, sich vor diesem zu verantworten. Allerdings erscheint mir dieser Ansatz unter Berücksichtigung der Interdependenz von Vergangenheit und Zukunft trotz seines absolut anmutenden Wesens dabei doch recht ausschnitthaft. Denn bleibt die Chance ständig unendlich? Der Mensch durchläuft in seinem Sein eigentlich ständig den Zustand des Werdens. Ich bin Schülerin, weil ich Abiturientin werde; ich bin noch nicht volljährig, doch dabei wachse ich heran. Somit setzt sich die Gegenwart aus der Vergangenheit zusammen und hat, so würde ich vermute, auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Zukunft. Das Nichts wird ständig gefüllt, also ist es als Ausgangspunkt nicht mehr das gleiche. Dies verändert den bereits thematisierten Horizont eines Menschen und gibt dem Potential besagte Richtung, was ihm wohl die Übermacht nimmt. Zwar hat das keinen unbedingten Gültigkeitsanspruch, sodass die Richtung auch immer befolgt würde, was im Geheimnis des Menschen zum Ausdruck kam, der schließlich niemals bis zu Letzt erfasst werden kann, aber es gibt eine gewisse Vorhersehbarkeit der Zukunft und darum ist das Potential des Potentials eines Menschen möglicherweise unendlich, nicht aber seine Entscheidung. Diese trifft er aufgrund dessen, was er kennt und kalkulieren kann, selbst wenn er sich bewusst für etwas entscheidet, das er nicht kennt. Insofern würde ich die Zukunft als einen Raum ansehen, in dem sich eine Veränderung (teils auch mit gleichbleibenden Elementen) des Vorangegangenen ereignet hat, und das Einzige, das unendlich wäre, wären die Kombinationsmöglichkeiten. Aber mit jeder ergriffenen Chance, was sich in unendlich kleinen Zeitabständen abspielt, wird aus dem Nichts etwas und das limitiert ihre Unendlichkeit in rein praktischem Kontext, da sie in der Theorie natürlich da wäre. Wenn ich durch die Stadt laufe, wäre ich theoretisch in der Lage, einen Passanten umzubringen, praktisch aber würde ich dies niemals tun. Und sollte dies der Fall sein, dann ist eine Ursache dafür in der Vergangenheit zu finden, die Zukunft wird meiner Meinung also von dem Vorvergangenen beschränkt.
In dem Punkt der Verantwortlichkeit hingegen stimme ich zu, zumal ich glaube, dass mit einem solchen Bewusstsein etabliert in jeder Person eine Menge Probleme gelöst werden können, aber das ist idealistisch gedacht und geht außerdem von einem hohen Maß an Sensibilität, Weitsicht und dergleichen aus. Nichtsdestotrotz ist fehlende Verantwortlichkeit jedenfalls tödlich, da dann die Chance tatsächlich unendlich wäre und das tritt ein, wenn die Folgen gleich null sind bzw. die Gebundenheit an diese Folgen. Jedoch sollte man verantwortlich sein, um die bereits gestellte Frage aufzugreifen, vielleicht, weil man sich ununterbrochen verantwortlich macht, und dies ist der Mensch, weil abwägen kann. In ultimativem Unterschied zum Tier stellt der Mensch die Frage „Warum?“ Meine Katzen zum Beispiel entnehmen dem Wetterwechsel bloß die Information, ob sie raus gelassen werden wollen oder wie Nelly bei Regen dann lautstark miauend und entrüstet wieder durch reges Schaben an der Terrassentür Eintritt ins Haus verlangen. Doch die Menschen hinterfragen und wollen wissen - wissen, weshalb die Jahreszeiten wechseln, usw. 6 Das erhebt ihn über die reine Wechselwirkung Instinkt/Reaktion hinaus und gibt Handlungsspielraum, aber gerade durch die ihm mögliche Reflexion muss er die Verantwortung tragen. So weit zu sagen, dass er somit die Rolle der Natur als formgebende und damit in gewisser Weise `verantwortliche` Kraft einnimmt, möchte ich nicht gehen, aber weil er die Chance als aktives Subjekt ausdehnt, hat er dafür zu bürgen. Diese Aktivität führt zurück zu der Gestaltung, da jene aktiven Charakter hat, und die Entscheidung darstellt. Die Entscheidung ist also der Kristallisationspunkt, an dem die Zukunft eintritt und eine neue Zukunft geschaffen wird. Dennoch glaube ich, an diesen Punkt kann man nur durch eine gewisse Übersicht über den weiteren Verlauf kommen, weshalb die Perspektiven wie zuvor angeklungen von der Gegenwart, die die Summe der Vergangenheit ist, selektiert sein müssen.
Und vielleicht ist das gerade die Herausforderung, die ein Menschenleben bestimmt: In dieser Chance nicht verloren zu gehen.


Luise Fertsch

Fußnoten 1 Verhalten wird notwendigerweise retrospektiv beurteilt bzw. die Gedanken eines Anderen, auf die über den Umweg der Verhaltensanalyse geschlossen werden kann; erst nachdem sich ein Gedanke manifestierte, er also in die sinnliche Welt eingetreten ist, wird er erlebbar.
2 Mir bedeutet Silvester zwar äußerst wenig, doch ich finde es immer wieder ein gutes Beispiel dafür, wie abhängig Menschen von externen Zeiteinteilungen sind, doch irgendwie wird man ja doch ein Stück davon mitgerissen.
3 Als Beispiel dient die immense Bedeutung, die Kultur und dergleichen haben, wenn es um die Entwicklung geht.
4 Das wäre beispielsweise die Befolgung von Erwartungen und allgemein gültigen Regeln: Pünktlich in der Schule sein, sich anzupassen und das Maß an Normalität, wie sie in einer bestimmten Gruppe definiert sei, erfüllen, usw.
5 Zur Stützung dieser These würde die Betrachtung von Revolutionen oder die daran anschließende Untersuchung einer Dialektik von Ordnung und Chaos dienen, aber das soll für hier erstmal so stehen gelassen sein.
6 Das ist natürlich nicht als bloße Abwertung der Tiere auf primitiveres Niveau zu verstehen, ich liebe unsere Katzen.