Wirtschaft und Bewusstsein

Aus Jugendsymposion
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von Elisabeth Taraba, 14. Oktober 2010

Uns geht es ziemlich gut. Eigentlich sogar sehr gut, wenn man nur die materiellen Güter betrachtet. Die Fragen, die nun bei der Überarbeitung der Hartz IV Gesetze behandelt wurden, schlossen unter anderem die Fragen ein, ob einem Hartz VI Empfänger Alkohol und Zigaretten von staatlicher Seite aus bezahlt werden sollten. Und ob ihnen ein Fernseher oder ein Auto zur Verfügung stehen sollte. Dies zeigt, was wir für einen Lebensstandard erreicht haben. Jeder Mensch kann es sich zumindest ab und zu leisten, das Internet zu nutzen, er hat die Möglichkeit, genug Essen zu bekommen und an einem trockenen Ort zu schlafen. Dass dazu auch etwas Eigeninitiative notwendig ist, zeigen die noch immer recht zahlreichen Obdachlosen auf den Straßen. Aber dennoch: Im Großen und Ganzen geht es uns gut, und wir sind einigermaßen zuversichtlich.

Wie selten machen wir es uns aber wirklich bewusst, auf wessen Kosten es uns so gut geht! Natürlich kennen wir die Bilder von hungernden Kindern in Afrika, von unter miserablen Bedingungen arbeitenden chinesischen Näherinnen und sich die Gesundheit zerstörenden Fabrikarbeitern. Unser Denken ist mittlerweile ziemlich global geworden. Rein verstandesmäßig betrachtet kennen wir die zerstörerischen und lebensfeindlichen Nebenwirkungen des Kapitalismus. Unser Denken ist mittlerweile unheimlich klug im Erfassen von strukturellen Zusammenhängen. Aber unser Fühlen kommt bei diesem rasanten Tempo nicht mit. Eine Welle der Empathie und der Spendenbereitschaft ging durchs Land, als Haiti im Januar 2010 von einem heftigen Erdbeben erschüttert wurde. Nach wenigen Wochen war diese allerdings schon wieder abgeebbt, und als im August Pakistan von einer der schlimmsten Flutkatastrophen der letzten Jahre heimgesucht wurde, war die Spendenbereitschaft längst nicht mehr so hoch. Es war schon ein Zustand der Abstumpfung in der Bevölkerung und auch in den Medien erkennbar. Wir haben uns an grausame Bilder gewöhnt und vertrauen häufig noch immer unbewusst darauf, dass sich die Naturgesetze nicht vom Menschen beeinflussen lassen, solche Katastrophen also nicht Mensch-verursacht sind, sondern vielmehr eben „Naturkatastrophen“ sind. Die Masse der Bevölkerung ist noch nicht bereit, die eigene Schuld an den Ursachen solcher Vorkommnisse sehen zu wollen. Vielleicht spendet man ein bisschen, um das liebe Gewissen zu befriedigen, doch von einem globalen Bewusstsein sind wir weit entfernt. Wir sind noch nicht eine große verbrüderte Menschheit, sondern eher ein Haufen von karikierten Individuen. Denn wir befinden uns in einem Zeitalter, dem neben dem Aspekt der „Globalisierung“ auch noch jener der „Individualisierung“ zugeschrieben wird. Individuell bedeutet aber für viele das gleiche wie „Ichbezogenheit“, Egoismus. Das Individuelle im Menschen wird heute vermehrt angesprochen. Wir finden Werbungen wie: „Nur Du bist DU“ (Coca Cola). Und auch die Werbeanzeigen im Fernsehen haben sich geändert. Man verwendet häufig keine Profimodels mehr, sondern einfach Firmenarbeiter, welche die ganze Werbung persönlicher, individueller gestalten sollen (z.B. Eric Seem , aktuelles Gesicht der Werbekampagne der HSH Nordbank.). Überhaupt macht uns die Werbung vor, dass gerade unsere Interessen hier verwirklicht werden, dass es um unsere Sicherheit geht und dass gerade wir gefördert werden sollen. Die Schüler lernen schon früh von ihren Eltern, sich vom Lehrer nicht unbedingt etwas sagen lassen zu müssen, sondern ihm ein „gesundes“ Selbstbewusstsein entgegenzubringen, und sich gegen ungerechte Behandlung sofort zu wehren. Die Schönheitsmagazine bringen uns bei, dass wir sehr auf uns selbst, unser Auftreten und unser Aussehen zu achten haben, denn nur so werden wir die Liebe erhalten, die uns auch zusteht. Es verbreitet sich eine Eitelkeit in der Gesellschaft, welche sich teilweise schon beängstigend nah am Narzissmus befindet.

So stehen wir heute zwei fast paradox erscheinenden Forderungen gegenüber: Wir müssen, um die kranke Wirtschaft einem Genesungsprozess zuführen zu können, ein globales Bewusstsein ausbilden. Ein Bewusstsein, welches sich nicht nur auf das analytische Verstandesdenken beschränkt, sondern welches eine wirkliche, andauernde Empathie und Verantwortung mit einbezieht. Dafür müssen wir unseren Erfahrungshorizont erweitern, und uns auf andere Menschen, Kulturen und Völker zubewegen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch ein individuelles, wirkliches „Selbstbewusstsein“ ausbilden. Sich selbst bewusst werden und ausbilden, ist die zweite Forderung unserer Zeit. Dass man sich hier auf einer Gradwanderung zum Egoismus befindet, ist das Risiko. Auf der einen Seite müssen wir also nach außen blicken, müssen gesellige und soziale Wesen werden. Dann wiederum aber brauchen wir auch die Zeit, uns zurückzuziehen und sind dann in gewisser Weise ungesellig. Aber nur, wenn wir einen gesunden Individualismus ausbilden, können wir auch zu einem globalen Bewusstsein kommen, denn nur, wenn ich mich selbst verstehe, kann ich auch andere Menschen, ja Kulturen etc. verstehen.

Um ein komplexes System wie die heutige Wirtschaft nicht als sinnentleert und bloß mechanisch funktionierend zu erleben, ist es notwendig, dass wir uns als Individuen als Teil dieses Komplexes begreifen. Wir sind abhängig voneinander, jeder von jedem, jedes Land von jedem Land. Dadurch tragen wir aber auch alle eine gemeinsame Verantwortung, wir müssen unser eigenes Tun und Handeln sinnvoll in die Prozesse der Weltwirtschaft eingliedern lernen und uns anstrengen, die Konsequenzen zu bemerken und wahrzunehmen. Denn nur zu leicht verlieren wir diese aus den Augen, da wir uns mit den Produkten unserer Arbeit nicht mehr verbinden, sondern bloß arbeiten, um Lohn zu erhalten. Wenn wir aber wirklich lernen, uns als Teil eines großen Ganzen zu empfinden, und unsere Abhängigkeitsverhältnisse bewusster wahrnehmen, so kann ein brüderliches, auf die Freiheit des Individuums gegründetes globales Wirtschaftsleben entstehen, welches von dem Engagement eines jeden Einzelnen lebt und darauf angewiesen ist.


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