Wirklichkeitswahrnehmung

Aus Jugendsymposion
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von Rebecca Schlecht, 28. Februar 2010


Aufbruch. Als vereinzelte Schüler einer Waldorfschule, irgendwo in Deutschland, macht man sich auf den Weg an einen Ort, an dem Menschen von vielen anderen Erdflecken anwesend sein werden, um gemeinsam ins Gespräch zu kommen und sich zu begegnen. Man verlässt seinen Heimatort und lässt sein eingeschliffenes, mit Vorurteilen behaftetes soziales Umfeld, seine gewohnten Gedanken und Tätigkeiten und nicht zu vergessen, den Schulalltag, hinter sich. Mit was für einem Gefühl nähert man sich so einem Ort und was wird einen dort erwarten? Ich persönlich machte mir wenig Vorstellungen darüber, was mich dort erwarten würde und ließ das Geschehen einfach auf mich zukommen, jedoch verspürte ich eine leichte, nicht ganz zuzuordnende Unsicherheit und Vorfreude auf das Neue und Viele, was einem an diesem Ort entgegen treten wird.

Als dann im Haus der Kirche die ersten Begegnungen mit den anderen Schülern entstanden, war plötzlich ein Großteil der Unsicherheit verflogen, denn wir waren alle unter Fremden und jeder war aufs äußerste bemüht den anderen offen und vorurteilslos zu begegnen. Ich fühlte mich sofort angenommen und ließ mich ganz auf die Menschen und das Geschehen ein.

Das am Donnerstag den 10. Dezember 2009 begonnene, erste Jugendsymposion in Kassel entwickelt sich während der vier Tage immer mehr zu einem großen Fest der Begegnungen und Gespräche. Denn als sich immer intensiver zugehört und immer spannendere und weltbewegendere Fragen in den Raum geworfen werden, erweitert sich meine eigenen Wirklichkeit um ein ungewohnt großes Stück und ich denke, dass es all den anderen Teilnehmern dieses Symposions eben so gehen muss.

Mit diesen bewegten Fragen und Begegnungs- und Kommunikationsmöglichkeiten machen sich in mir Hoffnung und Vertrauen breit, dass es eine gestaltete und lebendige Zukunft geben kann.

Am frühen Sonntagabend stehen noch zahlreiche Schüler, zur Abreise bereit, am Bahnhof und warten auf ihre Züge. Sie bilden eine große Gruppe und tauschen sich über die schönsten Erlebnisse während der Tagung aus. Auf einer Bahnhofsbank wird noch schnell ein selbst geschriebenes Gedicht eines Schülers an ein Mädchen, das begeistert von seiner Sprachkunst ist, weitergegeben. Einer von uns erzählt, dass er das Gefühl habe, als kenne er mehrere Gesichter von den Menschen, denen er auf dem Symposion begegnet sei, schon seit Ewigkeiten. Er zauberte den meisten von uns Zuhörern durch diese Beobachtung ein Lächeln aufs Gesicht und wir erinnerten uns an ähnliche Erlebnisse. Ist es nicht wünschenswert, dass ich genau in dieser Art, wie wir es als Gemeinschaft auf der Jugendtagung realisieren konnten, immer meiner Umwelt und meinen Mitmenschen begegne? Denn wie sonst kann ich eine Stimmung erzeugen, in der sich Mensch und Umwelt frei mitteilen und entfalten können? Intensives Zuhören und Wahrnehmen bis hin zur Identifikation mit meinen Mitmenschen und meiner Umwelt stellt für mich im alltägliche Leben jedoch eine wirklich schwierige Aufgabe dar. All zu schnell urteile ich und verharre auf diesen Standpunkten. In kürzester Zeit entwickle ich Antipathie für einen Menschen, ein Thema usw., obwohl ich mich noch nicht eingehend mit ihm auseinander gesetzt habe. Wieso tue ich das? Vermutlich aus Faulheit und aus Angst. Aus Faulheit, weil es mich unglaublich viel Energie kostet, auf etwas zuzugehen und über etwas nachzudenken, was mir fremd ist und worüber ich schon lange ein unpräzises Urteil gefällt habe. Aus Angst, weil ich mich vielleicht manchmal vor Veränderung fürchte, denn mein schön zurechtgelegtes Welt- und Menschenbild könnte ins Wanken geraten. Was für ein kleiner Tropfen Wirklichkeitswahrnehmung bleibt mir da übrig? Was führe ich für ein Leben in der Wirklichkeit, wenn ich kaum etwas von ihr verstehe?

Diese Fragen steigen mir nun ins Bewusstsein und ich mache mir klar, wie positiv all meine Mitmenschen meine Wirklichkeit und meine Lebensweise verändern könnten.Wie viel genauer würde ich die Welt erkennen, wie viel besser könnte ich mit ihr umgehen lernen, wenn ich ein Interesse für die einzigartige Wirklichkeitswahrnehmung eines jeden Menschen entwickeln und durch das Kommunizieren mit ihnen Teilansichten verknüpfe könnte. So böte sich mir die Möglichkeit der Wirklichkeit, ihrer Licht, wie auch ihrer Schattenseiten, immer näher zu kommen.

Wie vielschichtig muss die Wahrnehmung meiner Umwelt und meiner Mitmenschen eigentlich sein, damit ich sie als Teil der Wirklichkeit erkenne? Existiert nicht auf der einen Seite die wissenschaftliche Art der Erkenntnis, die mit Hilfe von Experimenten, Schlüsse über die materielle Welt zieht, und auf der anderen Seite die gefühlsmäßige und spirituelle Erkenntnis, die die Erkennenden nicht beweisen oder erklären können, da sie eher eine Art Identifikation mit einer Substanz oder etwas Immateriellem vornehmen? Ich denke, dass ich Emotionalität und Rationalität, sowie Sensibilität und Urteilskraft ausgewogen ausbilden müsste, damit es mir möglich ist, meine Umwelt und meine Mitmenschen differenziert wahrzunehmen, sodass ich im Umgang ihr/ihnen gleichermaßen das Materielle, wie das Immaterielle berücksichtige. Ist nicht genau das die Schwierigkeit und der Konflikt der heutigen Menschen, diese Tugenden zu einseitig zu beherrschen, sodass z.B. Naturwissenschaftler oft größtenteils rational und zweckbestimmt denken und wenig Wahrnehmung haben von dem immateriellen Wert von z.B der Natur oder den Menschen. Werden wir nicht alle immer mehr von dieser Zweck-und Nutzen-Denkweise bestimmt? Ist die ganze Welt bald ein riesiger Automat, sodass es bald jedem von uns so erscheint, als sei die Wirklichkeit eine Anhäufung von toter Materie, in der es darum geht, wer am meisten von ihr besitzt und die größte Macht und Kontrolle über sie hat? Wenn ich von dieser Zweck-und Nutzen-Denkweise eingenommen bin, kann ich meinen Mitmenschen dann überhaupt noch offen und vorurteilslos begegnen? Offen bin ich doch nur, wenn ich die Bereitschaft zeige für ein emotionales und spirituelles Erlebnis und den Wert eines solchen auch schätzen kann, und vorurteilslos nur, wenn ich zur neuen Urteilsbildung diese Offenheit meinen Mitmenschen entgegenbringe.

Es fällt mir schwer, den Nutzen oder den Zweck intensiver Begegnungserlebnisse, wie ich sie auf dem Jugendsymposion genießen durfte, zu benennen, denn diese Erlebnisse sind eher emotionaler und spiritueller Art. Sie lassen mich erkennen und hoffen, sie machen mich glücklich und schmecken nach wahrem Leben! Ich wünsche uns Menschen von ganzem Herzen eine Welt voll solcher Wahrnehmungen und Begegnungserlebnissen.


Rebecka Schlecht
Angeregt zu diesem Essay wurde ich durch den Vortrag von Marcelo da Veiga: Wirklichkeit und Erkenntnis

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