Wirklichkeit – Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Aus Jugendsymposion
Wechseln zu:Navigation, Suche

von Luisa Kaluza, 22. Februar 2010


Ein geklärtes Verhältnis zur Wirklichkeit sei eine Grundvoraussetzung zum Handeln, so hieß es im Einleitungsvortrag zum 1. Kasseler Jugendsymposium.

Aber was ist ein geklärtes Verhältnis zur Wirklichkeit bzw. wie weit kann man eigentlich die Wirklichkeit als wirklich abstempeln.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit neun oder zehn Jahren mit meiner Mutter darüber gesprochen habe, dass es ja auch möglich sei, dass das Leben ein Traum ist. Dazu fällt mir heute knapp acht Jahre später folgende Überlegung ein: Wenn selbst das Leben, und damit ist das Dasein grundsätzlich gemeint, nicht wirklich wäre, was könnte denn dann überhaupt Wirklichkeit sein? Möglicherweise fehlten und fehlen mir immer noch die Worte, wenn ich meine Gedanken, die Wirklichkeit des Lebens betreffend, ausdrücken möchte. Weil mir die Möglichkeit einer anderen Beschreibung dessen, was mir wirklich erscheint, was aber nicht real ist, fehlte, musste ich meinem Erfahrungshintergrund nach meine gedankliche Konstruktion das Leben betreffend als Traum bezeichnen. Worauf ich hinaus möchte, ist die Problematik unserer Sprache. Es ist überhaupt nicht möglich, über die Wirklichkeit von irgendetwas zu sprechen, solange nicht klar ist, was Wirklichkeit ist, denn es ist ein viel zu abstrakter Begriff. Lässt sich Wirklichkeit vielleicht als Summe vieler sich gegenseitig bestätigender subjektiver Wahrnehmungen definieren? Dann müsste das Leben ja doch vollkommen wirklich sein, denn das, was alle Lebewesen fühlen ist, wie der Name schon sagt, dass sie leben. Aber der Name ist von den Menschen gegeben, die dem, was sie als Wirklichkeit empfinden, den Namen Leben gegeben haben.

Ich glaube, die Problematik unserer Sprache bei der Disskusion über Wirklichkeit wird deutlich und lässt erkennen: Unsere Sprache gibt nur das wieder, was wir mit unseren Sinnesorganen wahrgenommen haben und dem wir einen Namen gegeben haben. Mit dem Benennen sowohl von Gegenständen, aber vor allem auch von abstrakteren Wahrnehmungen, beschränken wir sie zunächst einmal auf das rein physische, fertigen wir automatisch eine Vielfalt an Mustern an, welche sich auf den menschlichen Erfahrungshintergrund gründen und die Sinneswahrnehmung des Menschen als Gefährten haben.

Daher ist neben der Problematik der Sprache auch die Sinneswahrnehmung bei der Betrachtung der Wirklichkeit zu beachten. Unsere Wahrnehmung ist beschränkt, da wir nicht befähigt sind, zu erkennen, ob das Wahrgenommene objektiv ist (Primat des Objekts) oder ob es zum Beispiel nur ein Teilausschnitt der Wahrheit ist und damit eine subjektive Wahrnehmung (Primat des Subjekts). Genau wie bei Platons Höhlengleichnis, bei dem die mit dem Gesicht zur Wand, auf dem sich nur die Schatten der hinter ihnen Vorbeilaufenden abbilden, angeketteten Menschen nie erkennen können werden, ob ihre Wahrnehmung der Schatten oder die Wirklichkeit ist, solange sie nicht jemand von ihren Fesseln befreit, die sie daran hindern die Blickrichtung zu ändern. Was wäre, wenn wir Menschen ähnlich wie die Gefesselten nur daran gehindert werden, unsere Blickrichtung zu ändern, nur um die Wirklichkeit nicht zu erkennen? Und wenn das so wäre, was würden dann diese Fesseln darstellen, gegen was könnten wir versuchen vorzugehen, um uns zu befreien und die Wirklichkeit zu erkennen?


Natürlich liegt nahe, dass wenn zwei Subjekte (beispielsweise Arzt und Patient) die gleiche Wahrnehmung unabhängig voneinander machen, wobei der Eine diese als innere Wahrnehmung erfährt (beispielsweise Schmerz im Fuß) und der Andere diese als äußere Wahrnehmung bestätigt (der Arzt sieht die Wunde) davon auszugehen ist, dass sie zumindest auf einer annähernd objektiven Tatsache beruht. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass der Mensch Wahrnehmungen, Erkenntnisse und vermeintlich neue Gedankenstrukturen auf altbekannte Muster überträgt. Der Arzt und Patient also mit etwa dem gleichen Erfahrungshintergrund und damit vorgefertigten Potential an Mustern, was sich auf der einfachen Tatsache, dass sie beide Menschen sind, begründen lässt, übertragen beide möglicherweise nur leicht von einander abweichende neue Wahrnehmungen auf altbekannte Muster. Um diese Unsicherheit aufzuklären, bedürfte es eines dritten Subjekts, das kommunikativ in der Lage wäre, sich verständlich mitzuteilen, ohne aber den Erfahrungshintergrund eines Menschen zu besitzen. Mit dieser Feststellung ist die Unmöglichkeit bewiesen, die Unsicherheit innerhalb der Erkenntnis von Wirklichkeit zu beweisen, denn dieses gesuchte Subjekt werden sie nie finden, da ja schon das Erlernen der menschlichen Sprache auf dem menschlichen Erfahrungshintergrund beruht. Vielleicht stellt daher die Sprache eine Form von Fessel dar, und nur, wenn es uns gelänge, diese Fessel, nämlich die Notwendigkeit von Sprache bei der Kommunikation, zu überwinden, könnten wir eventuell die Wirklichkeit erkennen. Dagegen lässt sich einwenden, dass dann ja alle Tiere und Pflanzen in puncto Wirklichkeitserkenntnis uns einen Riesenschritt voraus wären. Das aber glaube ich nicht, denn ich denke ein geringeres Bewusstsein befähigt sie lediglich dazu, das vorgegebene „Verhältnis zur Wirklichkeit“ nicht zu hinterfragen.

Offen bleibt also die Frage, wie es uns möglich sein könnte, zu ergründen, was die Wirklichkeit ist. Da anscheinend unser Bewusstsein schuld an dem Versuch ist, eine Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit zu finden, möchte ich mich zunächst mit dem Bewusstsein selbst beschäftigen. Was genau ist eigentlich Bewusstsein? Es ist anscheinend eine Komponente in unserem Gehirn, die uns von den Tieren und Pflanzen unterscheidet, aber ist sie die Einzige? Oder was ist das als ICH bezeichnete Etwas, das den Menschen so einzigartig macht? (Zumindest empfinden wir es mit unserer beschränkten Sinneswahrnehmung und Sprache so, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das Bezug zu sich selber nehmen kann!)

Dieses Etwas muss mit unserem Gehirn zusammenhängen, daher frage ich mich, was ist denn eigentlich das Gehirn des Menschen?

Ein Abriss der Entwicklung der Gehirnforschung seit dem alten Ägypten zeigt, dass sich die Wahrnehmung des Gehirns und sein Platz als Funktionsorgan im Laufe der Geschichte deutlich verändert hat. Etwa 3.000 Jahre v. Chr. bezeichnete man Blutgefäße, Sehnen und Nerven noch unterschiedslos als Kanäle. Man wusste zwar, dass bei schweren Kopfverletzungen die Möglichkeit des Verlusts der Sprache bestand, siedelte den Sitz des menschlichen „ICH“ aber im Herzen an. Erst 2500 Jahre später vertrat Hippokrates von Kos als einer der Ersten die Meinung, dass sowohl die Empfindungen, als auch die Intelligenz im Gehirn des Menschen anzusiedeln seien. In der Renaissance widerlegte Flame-Andreas Vesalius dann die Aussage der bis dahin geltenden Annahme, dass Nerven hohl seien. Der Vater des Dualismus, das heißt der Zweiteilung alles Seienden in Materie und Geist, Rene Descartes, der die Seele, das Organ der Gefühle, der bewussten Wahrnehmung, des Nachdenkens und des willentlichen Handelns, im Gehirn ansiedelte und zwar in der Zirbeldrüse, ein kleines Organ im Zwischenhirn, das nach heutigen Erkenntnissen den Schlaf-wach-Rhythmus reguliert, lebte im 17. Jahrhundert. Ein weiterer Schritt dieses Jahrhunderts war dann die Behauptung des Arztes Thomas Willis, der die geistige Funktion des Gehirns nicht länger den Ventrikeln (Hohlräume im Gehirn, in denen das zur Polsterung dienende Hirnwasser gebildet wird) zuschrieb, sondern der Gehirnsubstanz an sich. Im 18. Jahrhundert entstand dann erstmals die Idee der Nerven als elektrische Leiter. Luigi Galvani konnte hierzu erste experimentelle Befunde liefern. Relativ zeitgleich entstand die Idee der funktionellen Gliederung der Großhirnrinde besonders geprägt durch Emanuel Swedenborg. Die Zelltheorie entwickelt von Theodor Schwann und Mathias Schleiden besagt, dass das zentrale Nervensystem aus einzelnen Zellen aufgebaut ist und war 1839 eine wichtige Entdeckung. Auf diese Entdeckung aufbauend fand Ramon y Cajal heraus, dass die Nerven jeweils nur in eine Richtung weiterleiten können und dass sich zwischen den einzelnen Zellen ein Spalt befindet, der später Synapse genannt wurde. 1894 konnten Oliver und Scharpey-Schafer dann erste experimentelle Indizien für die chemische Form der Überbrückung der Synapsen liefern. Vier Jahre zuvor hatten C.S. Roy und C.S. Scherington mit Hilfe neuester technischer Möglichkeiten bewiesen, dass eine neuronale Aktivität mit einer lokal verstärkten Durchblutung der entsprechenden Hirngewebe einhergeht. Heute, nachdem die Forscher die Puzzleteile der Forschung der letzten tausend Jahre zusammengesetzt haben, nachdem sie wissen, dass das Gehirn aus einzelnen Zellen besteht, die zwischen sich einen Spalt haben, den man Synapse nennt, welcher chemisch überbrückt wird, so dass die elektrische Reizweiterleitung entlang der sich spannungsmäßig umkehrenden Zellmembran fortgesetzt werden kann, nachdem sie wissen, dass das Gehirn funktionell zu gliedern ist, nachdem sie sogar geistige Aktivität von außen messen können, kann mir doch kein Forscher eine konkrete (und mit konkret meine ich, eine kurze, präzise) Antwort auf die Frage geben, was denn nun das menschliche ICH im Gehirn ist.

Und in diesem Fall wird deutlich, dass die Summe aller Teile manchmal eben doch nicht das Ganze ergibt. So fehlt uns nach wie vor Etwas um die Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit und damit das ICH des Menschen zu erkennen.

Möglicherweise ist ein sehr entscheidender Fehler in unseren Untersuchungen und Überlegungen, dass wir vergessen, dass wir mit eben dem, was wir ergründen wollen, eben dieses zu ergründen versuchen. Mit anderen Worten, wir haben nur ein menschliches ICH mit einem Bewusstsein, welches im Verhältnis zur Wirklichkeit steht, um eben diese Beziehung zu untersuchen.

Wird es uns trotzdem irgendwann gelingen über unser jetziges Bewusstsein hinaus die Wirklichkeit zu erkennen? Möglicherweise lässt sich aus der Vergangenheit auf die Entwicklung in der Zukunft schließen. Dabei ist zu beachten, dass sich die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins wohl in allen Regionen der Welt sehr unterschiedlich darstellt, was die Tatsache der unterschiedlichen Lebensformen der Menschen in den jeweiligen Regionen belegt. Ich kann und möchte mich aufgrund meines Umfeldes daher erst einmal auf die Entwicklung innerhalb der westlichen Zivilisation beschränken.

Die Verehrung von Götzenbildern zeigt eine Stufe der Entwicklung des Bewusstseins auf. Die Verehrung von Materie (Bildern) statt der Gefühle bzw. dem Ungreifbaren deckt die stattfindende Verwechslung von Wirklichkeit und Abbild auf und zeigt zugleich die Beschränkung des Bewusstseins. Statt sich das zu Verehrende vorstellen zu können, brauchten die Menschen ein Abbild. Ähnliche Phänomene sind in der Bewusstseinsentwicklung von Kindern zu beobachten, bei denen die Möglichkeiten des Bewusstseins von abstrakten Dingen mit zunehmendem Alter steigt. Die Entdeckung der Physik, dass das, was vom Menschen als Materie wahrgenommen wird, in Wirklichkeit aus kleinsten Teilchen, den Atomen, besteht, verlangt vom modernen Menschen, einen weiteren Grad der Abstraktion mit in sein Bewusstsein zu integrieren.

Dass nun die Aufbauelemente der Atome keine Materie darstellen, ist schwer begreiflich und setzt eine Veränderung der Wahrnehmung und des Bewusstseins der Natur voraus. Folglich müssten wir nun nämlich feste Materie nicht mehr als ein Ganzes, auch nicht mehr als Punkte, die miteinander verbunden sind, sondern als Verbindungen, die Punkte bilden, sehen. Eine enorme Veränderung des Bewusstseins, aus der sich folgern lässt, dass das, was wir als Natur bezeichnen, nicht unbedingt wirklich sein muss. Es lässt sich mehr als eine kollektive Repräsentation fassen, deren entscheidender, veränderlicher Faktor unser Bewusstssein ist. Genauso wie ein bestimmtes Zusammenspiel von Regenteilchen und Lichtstrahlen im richtigen Verhältnis zum beobachtenden Auge uns einen Regenbogen bewusst werden lässt, so ist die Existenz von atomaren Teilchen (bzw. die Existenz von Verbindungen) und ihrer Wechselwirkungen untereinander in Zusammenhang mit der Gegenwart der menschlichen Wahrnehmung dafür verantwortlich, dass in unserem Bewusstsein Phänomene auftreten, die wir als Natur bezeichnen.

Beachtet man hierbei den Umstand, dass das menschliche Bewusstsein der Faktor ist, der die Wahrnehmung prägt, welche wiederum das Bewusstsein beinflusst, wird deutlich, dass sich diese beiden Komponenten bei der Weiterentwicklung eines Einzigen im ewigen Kreislauf beständig weiterentwickeln werden.

Zum Beispiel mit der Veränderung des Bewusstseins bezüglich der Götzenbilder hat sich in der Menschheitsgeschichte schon die Weiterentwicklung einer dieser Komponenten bemerkbar gemacht und deshalb ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung sich gemäß einem ewigen Kreislauf fortsetzt und das wir irgendwann in der Lage sind unsere heutigen Fesseln zu durchbrechen und über unser jetziges Bewusstsein hinaus die Wirklichkeit zu erkennen. Unklar bleibt allerdings, ob sich nicht bis dahin unser Bewusstsein und damit das Verhältnis zur Wirklichkeit so sehr verändert hat, dass wir zwar die jetzige und damit die dann vergangene Beziehung begreifen, aber die zukünftige und dann gegenwärtige nicht verstehen können.


(Literatur, die meine Gedanken inspiriert hat: „Die Evolution des Bewusstseins“, Owen Barfield, „Zufall und Chaos“ David Ruell, sowie ein Vortrag des Physikers Dr. H.-P. Dürr und von Dr. Marcello da Veiga)

Links

Zurück zum Inhaltsverzeichnis der eingereichten Essays