Wirklichkeit – Ein Bericht über das 1. Kasseler Jugendsymposion

Aus Jugendsymposion
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erscheinen im Rundbrief der FWS Leipzig, Februar 2010

von Antonia Reinhard, 1. März 2010

Unter dem Motto „Wirklichkeit- Entdecke deinen eigenen Anspruch und lebe danach“ trafen sich am dritten Dezemberwochenende letzten Jahres 250 WaldorfschülerInnen in Kassel um Vorträgen zu lauschen, zu denken, diskutieren und Gedanken auszutauschen.

Den Eröffnungsvortrag hielt Dr. Wilfried Sommer von der Alanus Universität, der das Symposion auch mit organisiert hatte. Er sprach über das Verhältnis Mensch und Welt und ging dabei auf drei Konzepte ein, die uns durch die vier Tage begleiteten. Was ist primär, die Innen- oder die Außenwelt? Nach dem Primat des Objekts gibt es einen Vorrang der Objektwelt vor allem Subjektiven und Gefühlten. Um die Welt zu verstehen, untersucht der Mensch vollkommen objektiv die Natur und alles Körperliche. Doch bald gelangt man hierbei zu einem Wiederspruch, denn Messgeräte sind ja auch irgendwie subjektiv und der Primat des Objekts kann dem Subjektiven nicht vertrauen. Rechtsphilosophen sagen, man müsste auf Grund der modernen Hirnforschung das Gesetz ändern, da es möglicherweise gar keine Schuld gäbe. Und was ist mit Liebe? Ein Naturwissenschaftler, der nur an das zu Messende glaubt, glaubt auch, dass er seine Frau liebt und sie nicht nur durch chemische Reaktionen im Gehirn als zu sich passend empfindet. Draus folgt, dass er seine Arbeit von allem Privaten trennt und das Primat des Objekts damit schon fast wiederlegt ist.

Beim Primat des Subjekts ist der Mensch, das Ich, der Ausgangspunkt der Welt und alles Gegebene spiegelt sich in ihm wieder. Diese Form der Menschsicht ist stark idealisiert, da der Mensch Sicherheit für Erkenntnis nur in sich sucht. Beim Vortrag des Hirnforschers Prof. Hinderk Emmrich stellte sich hier die Frage ob der Mensch, der nur mit seinem Gehirn denkt, sich aus dieser subjektiven Sicht überhaupt vollkommen verstehen und erforschen kann. Laut ihm ist Wirklichkeit, was wirkt und sie wird nur vom Gehirn erzeugt.

Zum Glück gibt es eine Kompromiss: embodied mind, das verkörperte Bewusstsein. Dabei sollte der Mensch eine leibhaftige Verbindung zu seiner Seele suchen. Um in dieser Gesamtheit zu leben und zu denken, muss der Mensch einen Perspektivwechsel zwischen der 1. und der 3. Person vollziehen. In meiner Seminargruppe, der philosophischen Anthropologie, kamen wir zu dem Entschluss, dass es ein Inneres des Menschen gibt, was in die Umwelt ragt. Für mich sehr einleuchtend war das Beispiel von Prof. Dr. Wilfried Sommer. Er erzählte uns von einem Experiment mit jungen Katzen. Man nahm zwei junge Katzen, die erst ein paar Tage alt waren und noch nichts von ihrer Umgebung kannten und banden eine von beiden in einem kleinen Wagen an der anderen fest. Sie liefen, bzw. fuhren herum, erkundeten ihre Umwelt und als man sie voneinander losband, konnte sich nur die Katze, die selbst gelaufen war, orientieren. Das andere Kätzchen hatte genau dasselbe gesehen und gerochen aber eben nicht ertastet. Man schloss daraus, dass Bewusstsein verkörpert ist.


Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Physiker und Friedensnobelpreisträger, näherte sich dem Thema Wirklichkeit aus erkenntnistheoretischer Sicht und meint, die Wirklichkeit sei dynamisch und nichts, was man begreifen kann. Realität ist Wirklichkeit, aber nur ein kleiner Teil, denn wir erleben viel mehr als wir begreifen. Er ist ganz Einsteins Meinung: „Wir müssen lernen auf neue Weise zu denken“, und (mittels moderner Physik) einen Brückenschlag zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Religionen schaffen. Die Dualität von Glaube und Wissen ist eine doppelte Beziehung zur Wirklichkeit. Die Natur lässt sich nicht in Modellen ausdrücken, es gibt etwas Allgemeineres, und die Theologie ist der Schlüssel dazu. Wirklichkeit ist Potenzialität, - Immaterielles Fundament, ganzheitliche Struktur und eine offene Zukunft. Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit in seiner eigenen begrenzten Umwelt, deshalb ist es fast unmöglich über Recht und Unrecht zu streiten- die Wahrheit sieht für jeden anders aus.


Auch Prof. Götz Werner zitierte Einstein: „Wir können die Probleme von heute nicht mit dem Verstand von heute lösen, mit welchem sie entstanden sind.“. Er brachte uns das wirklichkeitsbezogene Verhältnis von Arbeit und Einkommen näher. Arbeit ist nicht, was gut bezahlt wird, sie bekommt erst einen Wert wenn der Mensch einen Sinn darin sieht. Das Erkennen der Notwendigkeit liegt bei mir, der Sinn bei den anderen, denn wenn man arbeitet ist man immer für andere Menschen tätig. Das Problem dabei ist, dass sich die realen Verhältnisse ändern, unser Bewusstsein dabei aber nicht. Die Voraussetzung für Innovation ist für ihn die konstruktive Unzufriedenheit mit den herrschenden Umständen.


Einen sehr eindrücklichen Vortrag hielt uns Bernd Ruf, ein Notfallpädagoge, der mittels (Waldorf-)Pädagogischen Fähigkeiten Kindern in Krisengebieten beisteht. Er brachte uns zunächst das Krankheitsbild des Psychotraumas näher, aus der eine andauernde Persönlichkeitsstörung folgen kann und so aus Opfern oft später Täter werden. Er reist mit seiner Akuthilfegruppe, bestehend aus verschiedenen Therapeuten, Eurythmisten und Lehrern, in Krisengebiete (ausführlich berichtete er aus dem Gazastreifen und Sichuan) und leistet dort etwa zwei Wochen lang Hilfe. Die Notfallpädagogen versuchen vor allem, die ständigen Rückerinnerungen an die traumatischen Ereignisse zu unterbrechen und Spannungen zu lösen. Mittels bildschaffender und anderer Methoden gewinnen sie das Vertrauen der Kinder, diese fühlen sich geschützt und die Selbsthilfekräfte werden gefördert. Sie arbeiten auch mit Eltern, zumeist mit Müttern weil deren Probleme sich auf die Kinder übertragen. Ich war sehr beeindruckt von dem Mut, sich in die Krisengebiete zu wagen, denn die Gruppe wird z.B. im Gazastreifen auch bedroht, und sie müssen selbst die schlimmen Erlebnisse verarbeiten. Das Ziel ist, den Kindern zu helfen die in Not sind und dafür treten sie ein. Sein Vortrag hat mir gezeigt, wie verschieden die Wirklichkeit sein kann. Es gibt viele Dinge, wahrscheinlich die allermeisten, die man sich als jugendlicher Westeuropäer nicht vorstellenkann, die in anderen Ländern Wirklichkeit und Realität sind.


Geblieben sind für mich nach dem Jugendsymposion noch einige Fragen, wie z.B. ob es Objektivität gibt und ob man sie durch Denken erkennen kann. Vielleicht entsteht in unsrer Schule mal eine Arbeitsgruppe oder ein Lesekreis die sich mit philosophischer Anthropologie und solchen Fragen wie der nach der Wirklichkeit beschäftigen. Danke an die Schule, die Johanna, Elisabeth, Clemens und mir das Jugendsymposion finanziell unterstütz haben!

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