Was bleibt an freier, moderner Individualität?

Aus Jugendsymposion
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von Patrick von Jeetze, 28. Februar 2010


Als Mensch in jeder Lage und Situation richtig zu entscheiden, das zeugt von moderner Individualität und ist gleichzusetzen mit Reife und Klugheit. Es ist das, was wir uns alle insgeheim erträumen. Es ist das, was unsere Vorbilder geschafft haben.

Inwiefern ist es aber möglich frei zu entscheiden? Ist es denn möglich mit unserem Wesen, das uns ausmacht, immer wieder objektiv und richtig zu entscheiden?

Ob es das klassische Schicksal gibt, sei mal dahingestellt, aber jeder Mensch hat ein einen vorgegebenen Weg, der sich langsam abzeichnet. Er ist davon abhängig, was er lernt, was ihm widerfährt und wie er von natürlichen und körperlichen Dingen beeinflusst wird. Da ist jeder völlig und definitiv anders, aber jeder Mensch beruft sich, sich wenn er sich entscheiden muss auf seine Vorkenntnisse, ob bewusst oder unbewusst. Diese Linie, die sich durch das Leben zieht, hat ihren Ursprung nicht nur an dem Ort an dem wir geboren sind, sondern da wo unsere Vorfahren waren. So hat jede Entscheidung, egal wie spontan oder überlegt sie auch sein mag, ihren Ursprung in der verarbeiteten Vergangenheit und unserem Wissen. Mit der Zeit wissen wir auch, was als schlecht und unmoralisch oder gut und tugendhaft zu gelten hat und unterliegen dabei immer einem Idealbild eines Menschen, der keine Fehler macht und immer richtig handelt. Auf dem Weg ein perfekter Mensch zu werden, sind die „unmoralischen und schlechten“ Erfahrungen vollkommen unnötig. Es soll der Weg sein, der vom trieb wegführt und den Weg der Tugend einschlägt. Ein Wesen, das nicht mehr von Trieben, sondern nur noch seinem Verstand gehorcht, ist rein menschlich.

Das ist einseitiger Perfektionismus.

Allgemein verpönt sind die Triebe wie Wollust, Luxussucht, Esssucht, Faulheit und Geldgier. So etwas möchte man in gut situierter Gesellschaft nicht haben, ein jeder wird gezwungen seine Schattenseiten zu verstecken, die zu seinem Leben gehören. Ist das modern und zeitgemäß? Lebt man so etwas aus, ist man triebgesteuert, egoistisch, faul und gehört natürlich zweifelsohne einer dunklen, schlechten, auch teuflischen Seite an. Solche Triebe verursachen Kriege, zerstören Leben oder Natur und treiben in den Ruin, seitdem es Menschen gibt.

Doch kann man weiter dann nicht auch die Liebe, Freundschaft, Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft als Triebe auffassen? Sind diese Tugenden denn nur einem „guten“ Verstandeswesen zuzuschreiben?

Nein sage ich, Sie haben nur einen anderen Charakter, aber sie stammen sicherlich vom gleichen Fleck und gehören sicherlich nicht zum verstandesmäßigen Denken eines modernen Individuums.

Aus verbrannter Erde, aus der Asche wachsen wunderschöne Pflanzen empor. Die roten, weißen, gelben Blumen, die saftigen Heiden, die starken Bäume und der duftende Rosmarin saugen ihre fruchtbare Kraft gerne aus der nährstoffreichen Asche, aus der Zerstörung. So ist der schwere Weg der reinen Tugend nicht unbedingt menschlich, er ist perfektionistisch. Es fehlen der Nährboden und die Essenz. Das Feuer. Der geistigen Blumenwiese fehlt der Dünger. Sie wird zwar wachsen, doch farblos bleiben und womöglich verkümmern. „Ein Buch ist wie ein blühender Garten, den man in der Tasche trägt“. Was wird dann aus dem Buch? Wie Lianen und Baumparasiten hängt der Inhalt in der Luft. Es ist graue Theorie.

Bildung sollte nicht schön schminken, sondern von möglichst vielen Blickwinkeln beleuchten, auch mal bewusst von der unmoralischen Seite her, frei nach Hesses „Demian“. Bildung funktioniert auch vor allem über Erlebnisse die man selber macht, nicht über weiße Seiten mit ein paar Tintenflecken drauf. Bücher sind etwas sehr wunderbares, doch das echte Leben können sie nicht ersetzen. Ein freier Mensch sollte auch mal aus sich herausgehen können, seinen Gefühlen freien Lauf lassen, einfach leben, solange Zeit dafür ist. Wenn wir von einem Individuum sprechen, dann braucht es auch mal einen Raum wo er individuell handeln kann, einfach mal tun kann, was ihm beliebt. Andererseits muss man dagegen als modernes Individuum auch erkennen können, wann man zum Wohl des anderen selbst zurückstecken muss. Ein bewusstes ausleben aller Triebe, führt zu einem breiten Spektrum an vielerlei Erfahrungen. Ob diese für einen selbst dunkel, böse oder hell leuchtend sind – das sollte man sich mal bewusst machen – kann man nur ganz subjektiv für sich allein feststellen und die Essenz aus diesen Erlebnissen ziehen und sich als der moderne unabhängige Mensch nicht von zweifelhaften Moralpredigern hineinreden lassen. Bei Erlebnissen mit Mitmenschen sollte man sich dann aber einig werden wie man Dinge einordnet.

Das alles führt zu differenzierterer Entscheidungskraft, auch gebunden an seine Erfahrungen. Man rückt näher an die Wirklichkeit heran, wenn man auch das Schlechte kennen lernt und verwendet. Es ist ein Weg hin zum modernen Individuum mit breiteren Entscheidungsmöglichkeiten und weiten Blickwinkeln.

Abhängig ist das eben von unserer Vergangenheit, Umgebung und Umwelt und somit auch sehr von der Erziehung. Ein Schulsystem, was nur dazu angelegt ist immer mehr Wissen und Erfahrungen - leider in immer kürzerer Zeit und mit immer weniger Mitteln - weiterzugeben um Individuen auszubilden führt zur Schulboulemie. Das Abitur wird heutzutage wichtiger und wichtiger während der Hauptschulabschluss oder vergleichbar „niedere“ Abschlüsse an Bedeutung verlieren und so kommt es, dass Wissen nur noch in sich hineingefressen und zur Prüfung aus sich heraus gepresst wird. Die Schulen und Universitäten werden menschlich immer unattraktiver. Natürlich war es nie so, dass sie ein Hort der offenen Bildung waren, und diesen Anspruch kann niemand erfüllen, denn Schulen sollen und können sich auch nicht in Paradiese verwandeln, doch man sollte sich davon entfernen Schülern Wissen einzupressen. Weltweit.

Lernt man heutzutage denn auch um sich persönlich und geistig weiterzuentwickeln?

Oder lerne ich nur für meinen guten Abschluss, um möglichst abgesichert zu leben und den bestmöglichen Einstieg in die Wirtschaft zu finden?

In einer Zeit die immer schneller wird, ist es besonders wichtig auch mal innezuhalten, wir haben uns dahin entwickelt, dass wir so etwas wie Ruhe brauchen, genauso wie die Möglichkeit mal Dampf abzulassen, um Druck abzubauen. Keine Zeit. Das Burnout-Syndrom wird immer häufiger, auch bei Schülern und Studenten, das ist sehr modern. Doch so idealistisch und schön Ideen sein mögen, alles hängt von der Finanzierung ab. Die schweren Geldmünzen in unseren Hosentaschen halten uns auf. Das ist auch nicht allzu schlimm, denn Geld ist auch eine Sache die vieles vereinfacht hat und ebenso maßgeblichen Anteil an unserer, auch positiven, Entwicklung hat. Das Geld ist verantwortlich für unsere Warenvielfalt und ermöglicht es uns Arbeitsmehrwert, den man für Gesellschaft geschaffen hat, in mit Hilfe von etwas Materiellem darzustellen. Dieser Arbeitswert wird benutzbar um beispielsweise Essen zu kaufen, das man selber nicht produziert. An dem sollte man auch nicht anfangen zu rütteln, sonst findet man sich in einer Sisyphosarbeit wieder, ein Verändern bringt hier nicht unbedingt weiter, ein Umdenken vielleicht dagegen schon.

Wie weit muss allgemeiner Wohlstand von Arbeit abhängen, sind wir nicht schon in der Lage die Grundbedürfnisse von Individuen zu erkennen und zu bedienen?

Die Idee des Grundeinkommens wirkt erst schwach. Sie bedient Faulenzer und drückt auf die Arbeitsmoral. Doch was für Möglichkeiten sich durch ein bedingungsloses Grundeinkommen eröffnen, darf nicht einfach übersehen werden, indem man es als Spinnerei abtut. Ein zweiter Blick ist da sinnvoll. Umdenken. Kreativität. Freiheit. Man arbeitet nicht mehr um leben zu können, Arbeit wird getan um erfolgreich zu sein oder um sich Annehmlichkeiten extra zu gönnen. Eine anstrengende Woche voller Überstunden muss man nicht mehr wegen des Geldes durchstehen, wenn das Streben nach Geld nicht mehr das erste und höchste Ziel ist. Als Individuum bleibt einem Raum individuell seine Zeit einzuteilen. Sie würden dann nicht aufhören zu arbeiten, das denken sie bloß von ihren Nachbarn, ist das nicht so? Hier muss Umdenken stattfinden und die Arbeit so angesehen werden, dass sie Schaffenstätigkeit gilt, für die ein Lohn gerechtfertigt ist, dieser aber durchaus als Bonus zu verstehen ist.

Eine solche bedingungslose, kreative Freiheit bietet Platz zur Entfaltung in persönliche Richtungen. Sie sorgt für große Individualität, die toleriert werden muss, um selbst individuell zu werden. Wir selbst sind eigentlich ohne zweifel alle Individuen, was fehlt ist der Mut zum Individualismus der Anderen.

Es wird auch immer mehr Verrückte geben, doch das schafft nur mehr Farbigkeit im zivilisierten Leben – das ist modern. Weiter denke ich auch, dass die Verrücktheit ganz eng verschlungen mit der Genialität stattfindet. Schaut sie euch an, die Genialen der Welt, alles in gewisser Weise verrückte Leutchen. Verrückheit, in Kombination mit Genialität, ist heutzutage die einzige Methode sich von der Masse abzuheben, in der alle versuchen sich durch Leistung und Status hervorzutun, oder schlimmer mit Unterdrückung und Gewalt.

Was an moderner Individualität bleibt sind die Wurzeln, die Halt geben und einen mit Nährstoffen versorgen. Die Wurzeln, nichts weiter.


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