Steckt in jedem von uns ein verborgenes Genie?

Aus Jugendsymposion
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von Julian Schletz, 4. März 2010


In diesem Text nehme ich Bezug auf die Dokumentation „Expedition ins Gehirn“.


Diese Dokumentation, welche im Januar 2008 auf ARTE ausgestrahlt wurde, beschäftigt sich mit der Untersuchung der außergewöhnlichen Fähigkeiten von den so genannten Savants („die Wissenden“), auch unter dem Begriff Inselbegabte bekannt, welche besondere Begabungen auf einem kleinen Teilbereich besitzen, ansonsten aber meistens eine kognitive Behinderung haben. So kommt es, dass über 50% der insgesamt 100 bekannten Savants weltweit Autisten sind. Zu Beginn der Dokumentation wird darauf verwiesen, dass das Verstehen des Denkens von Menschen mit dem Savant - Syndrom die notwendige Grundlage dafür sei, die Ursache für das menschliche Denkvermögen erklären zu können. Man könne dieses Syndrom so verstehen, als würde man an einem durchschnittlichen Gehirn einen großen Teil ausschalten, um einen bestimmten anderen dafür umso stärker zu aktivieren.

Rüdiger Gamm gilt als der bekannteste Savant in Deutschland. Seine außergewöhnliche Fähigkeit liegt darin, komplizierte mathematische Rechnungen, wie z.B. den Bruch 62/167 in wenigen Sekunden bis auf die letzte Kommazahl - und somit deutlich weiter als der elektrische Rechner, welcher bereits nach 30 Stellen hinter dem Komma aufhört -auszurechnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen bekannten Savants leidet Rüdiger Gamm unter keinen sonstigen Behinderungen.

In der Schule galt Rüdiger Gamm als wenig begabter Schüler, er blieb sitzen und schaffte gerade einmal die mittlere Reife. Dabei waren seine Problemfächer Mathe und Physik.

Erst nach seinem Schulabschluss, im Alter von 21 Jahren, bemerkte er seine Fähigkeit als er feststellte, dass er schneller Kopfrechnen kann als ein im Radio auftretender Rechenmeister; von da an begann er, sein Talent gezielt zu fördern und eine steile Karriere begann…


Kim Peek, auch „Kimputer“ genannt, welcher letztes Jahr verstarb, war durch schwere Behinderungen in den alltäglichen Aufgaben überfordert und lebte bis zuletzt bei seinem Vater, der ihn versorgte und pflegte. Er war beispielsweise nicht in der Lage, sich selber anzuziehen oder ein Spiegelei zu braten. Als Kleinkind rieten Ärzte seinen Eltern, ihn nach Möglichkeit abzuschieben, bzw. in ein Heim zu geben, da er niemals fähig sein würde zu laufen oder etwas zu lernen. Kim Peek ist durch sein stark ausgeprägtes Gedächtnis weltweit bekannt geworden. Seine Eigenschaft, 12.000 Bücher auswendig zu können, wobei er jedes genau einmal gelesen hat, brachte ihm einen Titel im Guinness Buch der Rekorde ein. Seine außergewöhnlich Art zu lesen, und zwar zwei Seiten gleichzeitig jeweils mit einem Auge wurde nach Untersuchungen folgendermaßen erklärt:


„Neuste Untersuchungen von Peeks Gehirn zeigten neben der Vergrößerung und der kaum vorhandenen Verbindung der beiden Gehirnhälften auch, dass der Übergang vom Großhirn zu den inneren Gehirnschichten kaum ausgeprägt war. Peeks Kleinhirn war zudem kleiner als normal.

Fehlende Verbindung der beiden Gehirnhälften zieht gemäß der modernen Neurobiologie einen ungebremsten Fluss von Informationen ins Bewusstsein nach sich, da die rechte und die linke Gehirnhemisphäre einander nicht intervenieren und so z. B. Zugangsrechte zu Informationen der jeweils anderen Gehirnhälfte steuern können.“ ( Quelle: Wikipedia/ Kim Peek)


Daraus folgt:

„Wenn man diesen Patienten etwas zeigt, dass sie nur mit dem einen Auge sehen können, dann wird auch nur eine Hirnhälfte das Objekt wahrnehmen. Wenn man also jemanden, dessen Sprachzentrum ganz normal in der linken Hirnhälfte sitzt, sagen wir einen Apfel zeigt, dann wird dieser Mensch den Apfel nicht benennen können, wenn ihn nur seine rechte Hirnhälfte sehen kann. Denn die sprechende Hälfte seines Hirns nimmt den Apfel gar nicht wahr.“ (Dr. Pratik Mukherjee)


Neben zeitgenössischen Savants gibt es auch Untersuchungen zu Savants, bzw. zu Trägern des Asperger- Syndroms aus der Vergangenheit. Es wird vermutet, dass berühmte Persönlichkeiten wie Siegmund Freud, Isaac Newton und Albert Einstein zu ihnen gehören. Einstein selbst hatte immer wieder betont, sein Genie habe damit zu tun, dass er selbst immer ein Kind geblieben sei. Typische Merkmale, die auf die genannte Vermutung schließen lassen, sind eine besonders ausgeprägte Unvoreingenommenheit, bzw. eine exakte Wahrnehmung, die alle Stereotypen und Konventionen ignoriert und das Fehlen jeglicher Angst davor, von bestehenden Gesetzen abzuweichen, bzw. vor den Augen anderer Menschen Fehler zu machen.

In der Dokumentation wird die These vertreten, Savants sähen die Welt, wie sie wirklich ist und nicht wie ‚Wir’ durch das Raster unserer bisherigen Erfahrungen. Diese These wird damit begründet, dass laut Untersuchungen bei Savants die Filtersysteme, die bei ‚Uns’ Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden bei ihnen nicht funktionieren würden. Dies sei der Schlüssel zu herausragender Kreativität.

Die Kreativität wird neurologisch als eine Funktion von neuronalen Netzwerken im Stirnhirn begriffen, die durch den Ausstoß des Glückshormons Dopamin aktiviert wird. Das Dopamin verbindet das Stirnhirn mit dem Langzeitgedächtnis, sodass Ideen, Gedanken und Vorstellungen, die Vorher unverbunden waren nun zusammen gebracht werden und Ideen, die vorher noch nicht gedacht worden sind nun gedacht werden können. Das Dopamin wird dann ausgestoßen, wenn eine Belohnung, wie z.B. der Gewinn des Nobelpreises, in Aussicht steht, sodass rückschließend daraus die Kreativität neurologisch erst durch einen zu erwartenden Zustand in der Zukunft hervorgerufen wird.

Viele Experten meinen heutzutage, dass Begabungen wie die der Savants in jedem Menschen schlummern, sie aber von komplexeren Fähigkeiten überlagert werden und deshalb nicht in Erscheinung treten. Dies wurde beispielsweise unterstrichen, indem bei Menschen mit einem durchschnittlichen Gehirn durch gezielte Stimulation des Gehirns bestimmte Fähigkeiten ausgeprägter als vorher hervorgerufen wurden. Z.B. wurden sprachliche Fehler, welche in bekannte Sprichwörter eingebaut waren, von den Probanden vor der Stimulation überlesen, da sie die Sprichwörter bereits kannten und ihrer Erfahrung unterbewusst vertrauten. Nach der Stimulation hingegen konnten sie bestimmte Wörter mit eingebauten Sprachfehlern teilweise nicht einmal mehr aussprechen.


Was lange Zeit keine Rolle gespielt hat und erst in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat ist die Rolle des Geschlechts unter den Savants, deren männlicher Anteil bei 6/7 liegt. Diese Tatsache begründet der Autismus Experte Simon Baron–Cohen aus Camridge in einer Theorie, welche besagt, dass Frauen ein so genanntes E – Gehirn besäßen, wobei das E für Empathie steht und somit für die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinzuversetzen. Männer hingegen hätten ein so genanntes S – Gehirn, ein System - Gehirn was eher für rationale Fähigkeiten wie Mechanik steht. Demnach sei das autistische Gehirn die übersteigerte Form des männlichen Gehirns, was sich auch im mangelnden Einfühlungsvermögen und dem übertriebenen Interesse in Systemen, wie z.B. der Mathematik bei Autisten widerspiegle.

Eine Gegenbeispiel zu dieser Theorie ist die autistische Dr. Temple Grandin. Sie ist die bedeutendste Person in der amerikanischen Viehzucht und hat im Reich der Burger und Steaks über 2/3 der Anlagen entworfen oder überarbeitet, in denen Rinder und andere Nutztiere behandelt werden. Sie gilt aufgrund ihrer Fähigkeit, die Welt aus den Augen einer Kuh zu sehen als eine Savant, das heißt, sie kann sich in die Tiere hineinversetzen und so wie sie denken. Dies wird ihr durch ein ausgeprägt bildhaftes Vorstellungsvermögen und ihren überaus detailreichen Blick dafür ermöglicht, was die Tiere in Panik versetzen könnte. Doch im Gegensatz dazu kennt sie keine menschlichen Gefühle wie z.B. die Liebe. Um menschliche Nähe überhaupt ertragen können zu lernen hat sie sich eine Maschine konstruiert, in der sie sich von zwei Matratzen drücken lassen kann; dies funktioniert wie eine „Umarmung“ auf Knopfdruck, mit der sich Autisten wie sie an Berührungen gewöhnen können.

Auch sie glaubt, dass Einstein, ihr großes Vorbild, heute als Autist gelten würde:

„Wenn man die Gene, die Autismus und Asperger hervorrufen, eliminieren würde, gäbe es keine Wissenschaftler und wir hätten kein elektrisches Licht; die sozial talentierten Menschen interessieren sich nämlich nicht für Technik. Ein bisschen Autismus macht vielleicht einen brillanten Kopf, etwas zuviel landet im Heim. Eines steht fest: Der erste Speer wurde nicht von den geselligen Typen erfunden, die gemütlich am Lagerfeuer saßen, sondern von einem Autisten, der einsam daran getüftelt hat, wie man aus Stein ein Werkzeug macht.“


Julian Schletz aus Kassel


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