Perfektion-is-muss

Aus Jugendsymposion
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von Luisa Bisswanger, 1. März 2010


Definition

Das Phänomen „Perfektionismus“ umfasst keine einheitliche Definition, vielmehr gibt es viele verschiedene Ansätze die es zu beschreiben versuchen. Um jedoch über das Thema Perfektionismus diskutieren zu können, muss eine einheitliche Grundlage gegeben sein, die ich durch die nun folgende, meiner Meinung nach sehr treffende, Definition liefern möchte: Perfektionismus wird als ein psychologisches Konstrukt beschrieben, das versucht die zwischenmenschlichen Unterschiede bezüglich des Strebens nach Perfektion und Fehlervermeidung zu erklären. Ein Konstrukt ist ein nicht empirisch erkennbarer Sachverhalt innerhalb einer wissenschaftlichen Theorie. Grob gesehen weist das perfektionistische Konstrukt eine Ausprägung auf zwei Dimensionen auf: einmal das Perfektionische Streben und zum anderen die Perfektionistische Besorgnis. Unter Perfektionistischem Streben versteht man hohe persönliche Standards und eine stark ausgeprägte Organisiertheit. Die Perfektionistische Besorgnis steht dagegen für eine übertriebe Fehlersensibilität, leistungsbezogene Zweifel und eine übersteigerte Angst vor Erwartungen und Kritik durch Eltern, Lehrer etc. Liegt die Ausprägung des Perfektionismus primär auf dem Perfektionistischen Streben, so spricht man von gesunden/funktionalem Perfektionismus. Sind hingegen beide Dimensionen stark ausgeprägt, wird der Perfektionismus als ungesund/düsfunktional, ja man kann sogar sagen als krankhaft angesehen.


Perfektionismus – ein Alltagsphänomen

„Natürlich, bin ich ein Perfektionist!“ Stolz schallt uns dieser Satz des Öfteren aus Interviews entgegen. So erhärtete sich für mich die These, dass uns der Perfektionsdrang eigentlich permanent umgibt und ich begabt mich auf die Spuren dieses Rätsels. Auf diesem Weg stellt ich immer mehr fest, wie sehr unsere westliche Welt in vielen Lebensbereichen geradezu auf Perfektion zu pochen scheint. An Hilfestellungen, um all diesen Ansprüchen gerecht zu werden, fehlt es dabei kaum, werden doch durch die tägliche Dauerberieslung (Werbung etc.) allerhand Lösungen propagiert. Ja man könnte fast sagen, uns wird tglich eine Schlacht der Superlative geboten: die weißesten Zähne, die geschwungensten Wimpern, die glänzendsten Haare etc.

Aus den gängigen Frauenzeitschriften entnehmen wir welche Schauspielerin nun beschlossen hat einfach erst später zu altern und erfahren freundlicherweise ihre Tipps und Tricks zur Überwindung der Naturgesetze. Außerdem erhält die Frau von heute wochenaktuell Informationen über die angesagten Must-Haves, ohne die frau modisch offensichtlich nicht überlebensfähig ist, auch wenn ihr Konto dazu eine andere Meinung hat. Überdies verhelfen einem allerlei Wunderdiäten nach dem Motto „ Ess dich schlank“ zur perfekten Traumfigur.

Auch das Berufsleben ist vor dem Perfektionsdrang schon lange nicht mehr sicher. Wenn man den derzeit ohnehin knapp bemessenen Stellenanzeigen Glauben schenken darf, so ist der perfekte Mitarbeiter heutzutage männlich – Schwangerschaften brechen dem perfekten Bild leider immer noch einen Zacken aus der Krone –, allerhöchstens Mitte zwanzig, hat ein erfolgreiches Studium absolviert, einen Doktortitel erlangt und kann gleichzeitig mehrere Jahre Berufserfahrung in den verschiedensten Bereichen vorweisen. Selbstverständlich ist er sozial und gesellschaftlich engagiert, teamfähig und besitzt eine gute Portion Biss und Durchsetzungsvermögen. Er steht in einer stabilen Partnerschaft, doch fehlt es ihm trotzdem weder an Mobilität noch Flexibilität und seinen strebsamen Ehrgeiz weiß er durch Bescheidenheit zu veredeln. Verschiedene, im Ausland erworbene Fremdsprachen sowie allumfassende PC-Kenntnisse werden selbstverständlich vorausgesetzt und deshalb gar nicht explizit erwähnt. Die beste Beurteilung in einem Arbeitszeugnis lautet: „stets zur vollsten Zufriedenheit.“ Allerdings ist dieser Ausspruch schon aus grammatischer Sicht unbrauchbar, denn besser als zur vollen Zufriedenheit geht es nun mal nicht! Jederzeit


Perfektionismus begegnet uns heutzutage also in vielerlei Hinsicht und es kann äußerst schwer fallen, sich diesem Wahn zu entziehen. Doch woher kommt diese Suche nach Perfektion? Wie entsteht Perfektionismus?


Wie entsteht Perfektionismus? (Gene oder Umfeld?)

Bei der Frage nach dem „Woher“ scheiden sich die Geister recht schnell. Ergebnisse jahrelanger Zwillingsforschungen bestärken die These, dass grundlegende Eigenschaften genetisch verankert sein könnten. Derzeit überwiegt jedoch die Lehrmeinung, dass der Mensch bei der Geburt zwar mit gewissen Merkmalen ausgestattet ist, sich aber die Prägung durch unser späteres Umfeld maßgeblich auf die tatsächliche Ausprägung dieser Grundzüge auswirkt. Ja, ihnen sogar eine ganz neue Richtung geben kann. Momentan geht man davon aus, dass die Weichen größtenteils im Elternhaus gestellt werden. Da man die Person nicht isoliert von ihrer Umwelt betrachten kann, ist es auch wichtig, welche Stellung sie in der Familie hat, Ältester, Jüngster etc.

Oft kommen Perfektionisten aus einem leistungsorientierten Zuhause, weshalb sie schon früh mit hohen Standards konfrontiert werden. Dies alleine führt jedoch noch nicht zu der Entstehung einer psychischen Störung. Erfährt das Kind durch seine Umwelt jedoch weder Wärme noch Wertschätzung, so steigt die Anfälligkeit zu einer perfektionistisch geprägten psychischen Störung erheblich und nicht selten entwickelt sich daraus der dysfunktionale Perfektionismus. Das Kind hat nicht gelernt, dass Fehler in Ordnung sind und von seinem Umfeld akzeptiert werden. Da es nur für Spitzenleistungen Lob und Annerkennung bekommt, gerät es unter den Druck, immer Höchstleistungen vollbringen zu wollen. Individuelle Lebenserfahrungen können uns einerseits vor Perfektionismus schützen oder diesen geradezu herausfordern.

In wirtschaftlich schlechten Zeiten spielen aber auch ökonomische Zwänge eine wichtige Rolle. Wir alle leben nicht auf einer Insel und nehmen sehr wohl wahr, was um uns herum passiert. Ein ganzes Heer von Erwerbslosen steht vor den Toren der Firmen und wartet nur darauf, dass wir einen Fehler machen, um an unsere Stelle zu treten. Oft fühlt man sich einem großen Leistungsdruck und Versagensängsten ausgeliefert. Außerdem drängt sich sie Sorge auf, ersetzbar zu sein. Da liegt es doch nahe, möglichst gut, gar perfekt und fehlerlos sein zu wollen. Oft sehen wir, dass Fehler ihren Preis haben. Doch auch das Streben nach Perfektion hat seinen Preis: gesundheitliche und zwischenmenschliche Probleme.


Perfektionismus und Gesundheit

Perfektionisten sitzen nun wirklich in der Falle. Einerseits genießen sie hohes Ansehen, weil ihr Drang zur Vollkommenheit als eine moderne Tugend gilt, daher bekommen Sie viel Lob und sind auf ihren Charakterzug entsprechend stolz. Andererseits haben sie praktisch das Unglücklichsein gepachtet. Denn wer immer ohne Fehl, Makel und Tadel sein will, der kann praktisch gar nicht anders als zu scheitern.


Funktional oder dysfunktional, das ist die große Frage

Hohe Standards sind nicht per se schlecht. Entscheidend ist, laut der deutschen Psychologin Christine Altstötter-Gleich aus Landau bei Karlsruhe, vielmehr der Umgang mit dem Misserfolg. Leidet man nicht unter ständiger Angst vor Fehlern und bezweifelt auch dann die eigene Leistungsfähigkeit nicht, wenn eine Sache mal nicht den gewünschten Erfolg bringt, so ist Perfektionismus funktional und eine durchaus positive Charakteristik. So kann Perfektionismus unseren Ehrgeiz, gute Leistungen vollbringen zu wollen, anzuspornen, wodurch im Idealfall eine erhöhte Aufmerksamkeit und gesteigerte Motivation erreicht werden.

Kann man also auch kleine Erfolge genießen, anstatt sich Gedanken über mögliche Niederlagen, Fehler und die Diskrepanz zwischen Erreichtem und eventuell noch zu Erreichendem zu machen, wenn alles perfekt geklappt hätte, dann herzlichen Glückwunsch und willkommen in der Gruppe der funktionalen/gesunden Perfektionisten. Rufen Niederlagen bei Ihnen jedoch Selbstzweifel oder gar Depressionen hervor, muss Perfektionismus als eine negative, dysfunktionale Eigenschaft angesehen werden.


Erstrebenswert

Wissenschaftlich konnte ein Zusammenhang zwischen dem Streben nach Perfektion und positiven Empfindungen, wie einem hohen Selbstwertgefühl hergestellt werden, besonders bei der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben. Personen mit funktionaler Perfektionismusausprägung begegnen Stress mit aktiven Copingstrategien (to cope = bewältigen), wodurch sie ihr Stresserleben reduzieren. Dies führt zu einer entspannten und zuversichtlichen Befindlichkeit, was die Anfälligkeit für psychische Störungen vermindert.


Vermeidenswert

Die Spannbreite der negativen Facetten des Perfektionismus ist allerdings wesentlich breiter und kann einem schon mal Angst einflößen. Angefangen bei Kopfschmerzen, Migräne, Magenbeschwerden und einem geschwächten Immunsystem, können auch Erschöpfung von Körper und Seele sowie schwerwiegende Depressionen eine Folge von Perfektionismus sein. Oft geht Perfektionismus auch mit Schlaflosigkeit, der Ausprägung einer Zwangsstörung, schweren Angstanfällen, Panikattacken und nicht zuletzt sogar mit einem körperlichen oder psychischen Zusammenbruch einher. Überdies stehen viele klinische Störungsbilder mit Perfektionismus im Zusammenhang. Beispiele hierfür wären der Alkoholismus, Anorexia und Bulimia nervosa, aber auch Beziehungsprobleme, sexuelle Funktionsstörungen sowie Selbstmordgedanken können als Begleiterscheinung auftreten.


Wenn Perfektionismus krank macht

Wenn das Gefühl der Überforderung immer stärker wird, ist der Weg zur psychischen Krankheit nicht mehr weit. Die eigenen Leistungen, egal wie hoch sie auch sein mögen, werden von dem Betroffenen immer als ungenügend angesehen. Zufriedenheit kennt er nicht, weil er die viel zu hoch gesteckten Ziele nicht erreichen kann und Abstriche nicht zulässt. Fehler werden dann als persönliches Versagen gedeutet. Typisch für den dysfunktionalen Perfektionismus ist auch das Schwarz-Weiß-Denken, nach dem Motto: „alles oder nichts!“. Hat der Perfektionismus erstmal pathologische Züge angenommen, ist psychologische Hilfe dringend notwendig.


Zum Abschluss noch ein keines Gedicht, dass für mich das Wesentliche des Perfektionismus sehr gut zum Ausdruck bringt:


Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
Im nächsten Leben, würde ich versuchen,
Mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
Ich würde mehr Entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter,
Als ich es gewesen bin,
Ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde gesund leben.
Ich würde mehr riskieren,
Würde mehr Reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
Mehr Bergsteigen,
Mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
Die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
Freilich hatte ich auch Momente der Freude,
Aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
Würde ich versuchen, nur gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben;
Nur aus Augenblicken:
Vergiss nicht den jetzigen.“

Jorge Luis Borges, 1899-1986
Einer der bedeutendsten argentinischen Schriftsteller


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