Kann ein Mensch in den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt "gut" sein?

Aus Jugendsymposion
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von Marie-Sophie Ernst, 1. März 2010


„Gut sein“, was ist eine mögliche Definition? Für mich beinhaltet das „Gut sein“, Humanitätund Nächstenliebe, oder einfacher ausgedrückt, die Achtsamkeit gegenüber allen Mitmenschen und weitergeführt, auch aller Lebewesen, sowie die Achtung derselben – alles Inbegriffe der Menschlichkeit an sich.

Nun stellt sich die Frage: Ist es einem Menschen, der all diese Ziele verfolgt und erfüllt, möglich, sich innerhalb der heutzutage herrschenden, gesellschaftlichen Verhältnissen zu etablieren?

Wir leben in einer Welt, die durch den Kapitalismus geprägt ist und zugleich auch Darwins Grundsatz mit unbewusster Euphorie auf das Weltwirtschaftsgeschehen überträgt: der Weiterentwickelte überlebt. Das Land, das mit immer neuen Erfindungen und immer neuen Wachstumsschüben die Weltwirtschaft anführt, hat hohe Chancen, diese Herrschaft zu festigen, wohingegen Länder mit mangelnden Erfolgen in der Wirtschaft als Entwicklungsland betitelt und gnadenlos ausgebeutet werden – Lebendiges und Nutzbares wird zur Gewinnquelle degradiert.

Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben die kapitalistische Gesellschaft im „Manifest der Kommunistischen Partei“ als eine Gesellschaft des „Elends“ und der „Ausbeutung“ - treffende Worte, die die negativen Aspekte der heutigen Wirtschaftsordnung, wie beispielsweise die oben angesprochene Ausbeutung der Entwicklungsländer, hervorheben und dramatisch unterstreichen.

Die auf einem stabilen Grundgerüst stehende, über die Jahre festgemauerte Hierarchie des Kapitalismus schreibt es dem Menschen unweigerlich vor, seine Augen zu verschließen und mit scheinbar zerstörerischer Wut das Gesetz des eigenen Vorteils, des Profits zu befolgen.

Der Mensch wird dazu gezwungen, ohne Rücksicht auf Verlust (der Menschlichkeit) den möglichst viel Profit bringenden Weg zur Selbsterhaltung zu gehen.

Ist ein Mensch „gut“ oder menschlich, so wird er bedenkenlos zum Gewinn des Anderen ausgenutzt – so ist in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft das Schicksal der guten Taten schon besiegelt, die Humanität wird auf das allerengste persönliche Umfeld des Menschen dezimiert.

Erstaunlich ist, dass ein renommierter Mitgestalter des literarischen Lebens im 20. Jahrhunderts, Bertolt Brecht, vor etwa 60 Jahren als Mensch, der seiner Zeit einen Schritt voraus war, bereits verlauten ließ, dass der Mensch im Grunde seines Herzens immer gut sei – eine recht optimistische Beurteilung des menschlichen Verhaltens – und dass erst die schlechten kapitalistischen Verhältnisse, die in der Gesellschaft herrschen, das korrupte Verhalten, das Unterdrücken der menschlichen Gefühle, der Moral, hervorrufen (B. Brecht, „Politik und Gesellschaft“). Brecht versteht den Menschen, entgegen der Annahme des Bösen im Menschen, als ein sinnlich-historisch“ und „vergesellschaftetes“ Wesen, sein Denken als „gesellschaftliches Verhalten“ (B. Brecht, „Politik und Gesellschaft“). Dieses Wesen ist Teil eines objektiven, geschichtlichen Prozesses, der aufgrund historischer Gegebenheiten einerseits das Wesen des Menschen bedingt und seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt, andererseits mittels existierenden Widersprüche in der Gesellschaftsordnung Möglichkeiten der Veränderung (der Verhältnisse als auch des Menschen) eröffnet. Die widersprüchlichen Missstände der realen, bestehenden Gesellschaft können als Ansatzpunkt für ein, den historischen Bedingungen angemessenes, eingreifendes Handeln gesehen werden um schließlich den Zusammenhang zwischen den ökonomischen Grundbedingungen der Zeit und den von den Menschen der verschiedenen Klassen verfolgten Interessen aufzudecken. Diese Thesen betonen erneut die Aktualität Brechts, der von vielen als veraltet abgetan wird, und unterstreichen meiner Meinung nach die Art von Aktion, die nötig wäre, um die Welt so zu verändern, dass „Gut sein“ wieder möglich ist. Auch Marx hat sich mit dieser Problematik beschäftigt und fordert in seinem „kategorischen Imperativ“ „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1).

Bei Goethe und Schiller, den Vorreitern der Klassik, findet man beispielsweise die Ansicht, dass der Mensch, genau wie die anthropologischen Voraussetzungen der Aufklärung besagen, nicht nur erziehbar ist, sondern auch der Erziehung bedarf.

Erziehung bedeutete für sie nichts anderes, als den Menschen zu dem zu machen, wozu er aufgrund seines aufgeklärten Wesens bestimmt ist. Der Erziehungsprozess, mit dem Ziel einer inneren Veränderung des Menschen, beginnt mit der Befreiung von unvernünftigen Vorurteilen. Befreit von diesen, besteht die Möglichkeit, dass sich das Weltbild einer Person verändert.

Doch wie befreit man heutzutage die Menschen die Menschen von Vorurteilen? Mit welchen Mitteln lässt sich dies erreichen? Mit Literatur, Malerei oder Philosophie erreicht man den Großteil der Menschheit heute nicht mehr. Würde sich der Mensch überhaupt der Befreiung hingeben? Oder sind nicht die, von uns so ausdauernd gepflegten, Vorurteile ein rettendes Tau in dem Wellen schlagenden Meer der undurchschaubaren Vorgänge in der Welt, an dem wir uns festklammern um nicht unterzugehen?

Ist der Mensch also bereit für eine Veränderung?

Oder eine andere Frage: Ist das heutige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem nicht zu etabliert um verändert zu werden? Den Menschen, die die Macht der Veränderung innehaben, würde eine solche ausschließlich Schaden zufügen. Es gibt viele Veränderungsvorschläge, doch alle innerhalb des festen Rahmens des Kapitalismus und somit wird das bedingungslose „Gut sein“ erschwert oder sogar unmöglich.

Wie schon in der gesamten Menschheitsgeschichte hängt eine (radikale) Veränderung von einer kollektiven Aktivität, ein Streben nach einem Ziel, ab, die im Zeitalter der Globalisierung die komplette Weltbevölkerung betreffen würde. Früher fanden Revolutionen auf der Straße statt, im Kampf, mit Mistgabeln und Waffen, heute sollte es eine Revolution des Denkens sein, im Geist.

Die Menschen sollten aus der Geschichte lernen und in einen friedlichen Austausch kommen, um auf den Thesen der Mitmenschlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ihre aktuelle Denk- und Handlungsweise abzuwägen.


An das Ende meiner schriftlichen Ausführungen möchte ich den Epilog aus Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ setzen:


Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:
Wir wissen Wohl, das ist kein rechter Schluß.
Vorschwebte uns: die Goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst und sehen betroffen
Den Vorhang zu und alle Frage offen.
Dabei sind wir doch auf sie angewiesen
Daß die bei uns zu Haus sind und genießen.
Wir können es uns leider nicht verhehlen:
Wir sind bankrott, wenn sie uns nicht empfehlen!
Vielleicht fiel uns aus lauter Furcht nichts ein.
Das kam schon vor. Was könnt die Lösung sein?
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
Wir sind zerschmettert und nicht nur zum Scheine!
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie Selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los such dir selbst den Schluß!
Es muss ein guter da sein, muß, muß, muß!


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