Die innere Wirklichkeit eines Kindes und wie sie bildnerisch zum Ausdruck kommt

Aus Jugendsymposion
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von Sonja Balfanz, 1. März 2010


„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“
Paul Klee


Schon lange bewegen mich Kinder mit sozialen Problemen, Kinder, die von zu Hause keine Sicherheit und keinen Halt bekommen und die von ihrem Umfeld so stark geprägt werden, dass sie in unserer Gesellschaft schon in diesem zarten Alter als auffällig und gestört gelten. In meinem Text möchte ich mich nun mit dem Bild des Kindes auseinandersetzen und erläutern, was darauf zu sehen ist und wie man es deuten kann. Daraus lässt sich dann schließen, wo ein bestimmtes Kind steht. Dies ist allerdings nur eine allgemeine Analyse, denn eine Kinderzeichnung kann nicht pauschalisiert werden, man muss das Kind, seine Situation und das Bild als ein Ganzes sehen und sich sehr vorsichtig an eine Interpretation heranwagen.

Ausschlaggebend für mich, dieses Thema zu wählen, waren die Zeichnungen schwererziehbarer, hyperaktiver oder spätentwickelter Kinder, die ich während meines Praktikums in einem speziellen Kindergarten sammelte. Beim genaueren Betrachten fiel mir auf, dass diese Bilder erschreckend viel ausdrückten und man in jedem „Kunstwerk“ den Maler wieder entdecken konnte. Einige Bilder spiegelten die starke Aggression und Wut wieder, andere Kinder setzten sich in ihren Bildern mit den eigenen motorischen Schwächen auseinander oder malten ganz alltägliche, aktuelle Probleme, die sie in der Zeit erlebten. Bei eigentlich allen Kindern war der fehlende Entwicklungsstand besonders auffallend. So malte ein Siebenjähriger Bilder, die man auch einem Dreijährigen zuordnen könnte. Einerseits war das Ausgedrückte also ganz direkt und verständlich, gleichzeitig lebte jedes Kind in seiner eigenen Welt und ich stellte fest, wie differenziert die innere Wirklichkeit jedes Kindes zur Außenwelt war.

Im Folgenden möchte ich mich nun genauer mit dem Thema der Kinderzeichnung auseinandersetzen und die, meiner Erachtung nach, wichtigsten Aspekte etwas genauer erläutern.


Beginnen möchte ich mit der Frage, was bewegt ein Kind, welche äußeren Eindrücke beeinflussen sein Wesen und bewegen es innerlich?

Eine wichtige Rolle spielt hier das soziale Umfeld. Also, wie sind die zwischenmenschlichen Begebenheiten und Beziehungen in seinem engsten Umfeld: In was für einer Familie wächst es auf, ist es ein Einzelkind, leben die Eltern getrennt, steht es stark im Mittelpunkt, erlebt es viel Gewalt mit, spielt es viel mit anderen Kindern…?

Dazu kommt das, ich nenn es mal „materielle Umfeld“. Also, in was für einer Kultur lebt das Kind, ist es arm oder reich, ist es viel in der Natur, oder wohnt es in der Großstadt an einer stark befahrenen Straße?

Der dritte, wichtige Teil ist das Individuum eines Kindes. Hier spielen auch Krankheiten und Schwächen eine große Rolle. Vielleicht hat das Kind auch besondere Fähigkeiten, die es schon sehr früh prägen. Dazu kommen andere Eigenheiten und Typfragen, wie Emotionalität oder Auffassungsvermögen.


Dies sind alles Aspekte, die Aufschluss über das kindliche Verhalten geben können und die kleine Kinderseele auf jeden Fall prägen.


Je nach dem werden die äußeren Eindrücke nun verinnerlicht und verarbeitet. Dieser Prozess wird meiner Meinung nach bei jedem Kind anders ausfallen. Ein eher fröhliches, mutiges Kind wird auf Neues und Ungewohntes offener reagieren als ein ängstliches, sensibles Kind. So kann eine erlebte Situation je nach Kind ganz unterschiedlich bildnerisch zum Ausdruck kommen.


Nun möchte ich auf das Sichtbare, also auf das Bild eines Kindes und dessen Interpretation zu sprechen kommen. Ich möchte die verschiedenen Bereiche wieder kurz darstellen und erläutern. Im Voraus möchte ich darauf hinweisen, dass alle Aspekte dasselbe mehr oder weniger stark beinhalten. So gibt jeder Punkt Aufschluss über die Gefühle und Emotionen, den Stand der Entwicklung, die Motorik, den Realitätsbezug und über die zwischenmenschlichen, weltlichen Beziehungen.


Farben

Ein wichtiger Punkt sind die Farben auf einem Bild, sie sagen viel über die Gefühle und Emotionen des Malers aus (Rot z.B. ist immer ein Ausdruck starker Emotionalität, im positiven wie im negativen Sinne, oft wird mit ihr Liebe, Leidenschaft und Vitalität (Wärme) assoziiert, ebenso kann sie auch starke Aggressivität, Wut, Ärger ausdrücken). Sie können entweder auf Gefühlsebene, also irreal, erfasst werden, oder sie spiegeln die Realität und das Sichtbare wider. Anhand dessen kann man auch die Entwicklung eines Kindes besser einschätzen.


Formen

Die Formen und Muster auf einer Zeichnung entstehen erst mit dem Heranwachsen des Kindes. So malt es am Anfang noch ganz wackelige Striche und Punkte, die für das Kind noch keine Bedeutung haben und kommt dann irgendwann über Kreis, Spirale, Viereck und Dreieck zu Menschen, Häusern und Pflanzen, die es ganz klar bezeichnet. Zu diesen Symbolen gibt es die verschiedensten Ausführungen und Analysen, die hier aber eindeutig den Rahmen sprengen würden. Sicher für mich ist, dass Symbole am stärksten kundgeben, inwieweit ein Kind entwickelt ist. Anhand ihrer Ausführung kann man auch sehen, wie sicher ein Kind z.B. mit dem Stift umgehen kann, oder ob die Formen etwas über seine motorischen Fähigkeiten, oder über seinen Stand in der Gesellschaft aussagen (eine wacklige Form lässt schwer auf Sicherheit und Selbstbewusstsein schließen).


Malverhalten / Malweise

Das Malverhalten kann man als Malweise im Bild wieder entdecken, es trägt sehr viel zum Verständnis bei. So äußert sich z.B. Aggressivität in einem raschen, eher unkontrollierten Duktus (Führung des Stiftes, Pinsels), kräftiger Farbwahl und meist spitzen Formen. Ein ganz in seine Welt versunkenes Kind dagegen malt in jeder Hinsicht harmonischer, ruhiger und ausgeglichener. Ab einem bestimmten Alter erzählen Kinder auch mal was zu ihrem Bild, was teilweise sehr hilfreich sein kann. Dies sollte in der Regel allerdings vom Kind selbst ausgehen.


Bildaufbau

Wo fängt das Kind an zu malen? Malt es über das ganze Blatt oder sucht es sich eine kleine Ecke aus? Gibt es klare Trennlinien und Bereiche? Dieser Prozess muss ebenfalls beachtet werden, denn auch er kann vieles über das Kind und seinen Umkreis aussagen. Möchte es sich z.B. von etwas abgrenzen oder nutzt es nur einen bestimmten Raum des Blattes? Besonders zur räumlichen Aufteilung gibt es vielfältige Interpretations-möglichkeiten. Schon die Wahl des Bildformates (Hoch-oder Querformat) kann unterschiedlich gedeutet werden.


Bildinhalt

Die wichtigsten und wohl auch bekanntesten Bildinhalte zum Analysieren eines Kinderbildes sind Baum, Haus und Mensch. Diese drei Darstellungen geben Auskunft über alle Aspekte, also über das soziale und materielle Umfeld, als auch über das Individuum selbst. Steht ein Baum z.B. fest verankert auf dem Boden, hat er eine ausgeprägte, starke Krone, wachsen Blätter und Früchte, besteht Verbindung zwischen Stamm, Wurzeln und Ästen? Hat das Haus Fenster, kommt Rauch aus dem Schornstein (gibt es überhaupt einen), ist das Haus belebt, brennt Licht, schaut einer raus? Wie groß ist der Mensch, stimmen die Verhältnisse, fehlt etwas Wichtiges, ist er von vielen Details umgeben, sieht er sicher und gesund aus? In diesem Bereich gibt es auch die Möglichkeit, die Familie malen zu lassen. Daran kann Stellung, Wichtigkeit und Verbundenheit einzelner Mitglieder erkannt werden. Diese Methode wird auch häufig in der Familientherapie angewendet. Bei kleineren Kindern spielt auch der Realitätsbezug eine große Rolle. Wurde das Wahrgenommene vom Auge so erfasst, wie es auch von anderen gesehen wird, oder ist eine Sonne plötzlich violett und das Gras gelb?


Abschließend möchte ich noch einmal verdeutlichen, dass dies nur Versuche und Wagnisse sind. Um wirklich festzulegen, was hinter einem Kinderbild steckt, braucht man gewiss viel Erfahrung und eine offene, ganzheitliche Ansicht des gesamten Geschehens. Man darf nie müde werden, seine Ansicht wieder zu verwerfen und das Kind und sein Seelenleben von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Deshalb ist für mich persönlich auch das Beachten verschiedener Ansätze und Interpretationen (sei es die anthroposophisch begründete Gliederung des Menschen, ein psychisch-analytischer Ansatz, die eigene Meinung und Beobachtung…) sehr wichtig. Man darf auf keinen Fall vergessen, dass es um ein Kind und seine Gefühle, Begebenheiten geht. Man sollte wertschätzen, dass diese jungen Menschen noch in der Lage sind, ihr Innerstes ganz unverblümt und spontan auszudrücken. Denn diese Fähigkeit geht mit der Zeit leider verloren.


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