Die Wirklichkeit der Zahlen

Aus Jugendsymposion
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von Anna-Maria Sträßer, 25. Februar 2010

Für mich stellte sich die Frage nach der Wirklichkeit der Zahlen, als ich begann, mich mit imaginären Zahlen zu befassen. Imaginäre Zahlen sind Quadratwurzeln aus negativen Zahlen. Diese Idee fand ich sehr schön. In meiner Jahresarbeit habe ich einige Zahlen untersucht, darunter auch 𝑖 – die Quadratwurzel aus -1. Natürlich redete ich mit mehreren Menschen über meine Jahresarbeit. Die wenigsten wussten, dass es 𝑖 gibt, und sie hatten starke Zweifel an der Existenz dieser Zahl. Denn: was soll eine Quadratwurzel aus einer negativen Zahl sein? Es muss eine Zahl sein, die quadriert eine negative Zahl ergibt. Schon in der Mittelstufe lernen wir: minus mal minus ist plus, plus mal plus ist ebenfalls plus.

Die imaginären Zahlen sind ein neues System. Sie sind nicht weniger vorstellbar, man muss nur das Gewohnte (sprich die reellen Zahlen) etwas erweitern. Die Zweifel meiner Gesprächspartner waren Auslöser dafür, dass ich mich fragte, ob imaginäre Zahlen tatsächlich weniger wirklich als die bekannten reellen Zahlen sind. Oder sind alle Zahlen eigentlich gar nicht wirklich?

Stellt man die Frage, ob etwas wirklich ist, ist es ganz nützlich vorher zu klären, was es eigentlich ist, nach dessen Wirklichkeit gefragt wird. Bei Gegenständen der materiellen Welt scheint die Antwort auf der Hand zu liegen. Auf die Frage, was Zahlen sind, findet man nicht so schnell eine Antwort. Darstellungen von Zahlen begegnen uns überall: Die Anzahl der Bücher in einem Regal, die Anzahl der Seiten eines Buches, der Wörter auf dieser Seite, der Buchstaben eines Wortes, der Größe eines Buchstabens… Schon bevor man zählen kann, ist man in der Lage Mengen zu erfassen. Schon lange bevor die Menschen Ziffern erfunden hatten, konnten sie Mengen zuordnen. Ein Hirte, der keine Zahlen kennt, kann seine Schafe dennoch zählen. Beispielsweise kann er für jedes Schaf, das durch einen schmalen Durchlass an ihm vorbeigeht, eine Kerbe in einen Stock schnitzen oder kleine Kugeln formen, für jedes Schaf eine. Am nächsten Tag kann er die Schafe wieder an sich vorbeiziehen lassen und feststellen, ob alle da sind, indem er jedem eine Kerbe oder Kugel zuordnet. So ist die Eins schon vorhanden, bevor sie überhaupt als Zahl wahrgenommen wurde. Für die ersten Mathematiker war die Realität der Zahlen keine Frage. Sie beschäftigten sich nur mit mathematischen Begriffen, die sinnlich erfahrbar sind, wie z. B. natürliche Zahlen als Mengen, Rechenoperationen (allerdings eingeschränkt) und einfache geometrische Figuren. Brüche sind in dieser naiven Mathematik bedingt real, da ein Teil eines Ganzen zwar einerseits nur ein Teil andererseits aber auch wieder eine Einheit ist. Auch irrationale Zahlen sind teilweise real. Die Quadratwurzel aus 2 beispielsweise ist die Länge der Diagonale in einem Quadrat mit einer Seitenlänge von 1 LE. Die Pythagoreer konnten die Existenz der √2 nicht abstreiten, da auch ein Quadrat mit einer Seitenlänge von 1 LE offensichtlich eine Diagonale hat. Zahlen, die Lösung einer Gleichung der Form a_0+a_1 x+a_2 x^2+a_3 x^3+⋯+a_(n-1) x^(n-1)+a_n x^n=0 ;(a∈Q) sind (Tut mir Leid, dass das so unelegant aussieht), werden algebraische Zahlen genannt. Sie sind Teil der Menge der irrationalen Zahlen. Strecken mit algebraischer Länge können mit Zirkel und Lineal konstruiert werden. Negative Zahlen, die Null oder gar die Unendlichkeit sind in dieser Sicht auf die Mathematik unvorstellbar. Wenn nur wirklich ist, was mit Dingen verbunden werden kann, existiert kein Nichts und schon gar nicht etwas noch Kleineres. Naive Mathematiker in diesem Sinne waren zum Beispiel Pythagoras und Euklid.

Mathematik kann man auch als Gedankenspiel sehen. In der Mathematik müssen nur einige wenige Anfangsbedingungen aufgestellt werden. Aus diesen kann man logisch schlussfolgern und erhält ein relativ komplexes System. Zahlen sind in dieser Sichtweise der Mathematik nicht real, da sie ja nur ausgedacht sind. Die Übereinstimmung dieses Gedankenkonstrukts mit der Wirklichkeit ist rein zufällig. Diese Sichtweise ist heute unter Mathematikern weit verbreitet, was eigentlich verwundern müsste. Sie beschäftigen sich täglich mit etwas, was ihrer Meinung nach gar nicht wirklich ist. Mathematiker scheinen sehr tolerante Menschen zu sein.

In beiden Sichtweisen auf die Mathematik sind Probleme vorhanden. Die Zahlensysteme der naiven Mathematik sind unzureichend und die Mathematik als Gedankenspiel funktioniert nur, wenn dieses Gedankenspiel widerspruchsfrei ist. 1931 bewies Kurt Gödel, dass die Widerspruchsfreiheit eines hinreichend komplexen Systems nicht mit den Mitteln dieses Systems bewiesen werden kann. Da man durch logische Schlussfolgerungen nicht aus diesem System herauskommen kann, wird die Widerspruchsfreiheit dieses Systems nicht geklärt werden können. Die naive Mathematik sieht Mathematik als Naturwissenschaft an, doch das funktioniert offensichtlich nicht sehr gut. Die Schulmathematik vermittelt oft den Eindruck der Naturwissenschaft, besonders durch so intelligente Erfindungen wie Anwendungsaufgaben, in denen einem vermittelt werden soll, was für einen hohen praktischen Nutzen das hat , was man im Unterricht so lernt. Den Nutzen sieht bestimmt jeder ein, wenn er einmal das maximale Volumen eines Kastens, der aus einem 2,5"cm"∙3,0"cm" großen Blech gefertigt werden soll, berechnet hat.

Ist die Mathematik nur ein Gedankenkonstrukt und Zahlen demnach nicht wirklich, so ist die Mathematik dennoch eine Geisteswissenschaft.

Eine weitere Möglichkeit, die Wirklichkeit der Zahlen zu bestimmen, ist der Konstruktivismus. Für Konstruktivisten ist nur wirklich, was konstruiert werden kann. Viele Zahlen sind also wirklich, während manche es nicht sind. Transzendente Zahlen lassen sich beispielsweise nur teilweise konstruieren. Transzendente Zahlen sind irrationale Zahlen, die nicht Lösung einer algebraischen Gleichung sind.

Dazu gehören π und 𝑒. Diese beiden Zahlen sind Beispiele für konstruierbare transzendente Zahlen. Zusätzlich gibt es noch unendlich viele nicht konstruierbare. Die Unendlichkeit ist für Konstruktivisten ebenfalls ein Problem. Sie beginnt gerade dort, wo die Konstruierbarkeit aufhört.

Keine dieser Sichtweisen erlaubt eine vollständige Akzeptanz der Wirklichkeit der Zahlen. Doch es gibt eine Philosophie, die die Wirklichkeit der Zahlen zulässt. Ihr Begründer war Platon. Es gibt verschiedene Dreiecke, die alle unterschiedlich aussehen. Trotzdem erkennt man alle unterschiedlichen Dreiecke als Dreiecke. Selbst Menschen, die ja unterschiedlicher kaum sein könnten, kann man alle als Menschen erkennen. Platon zufolge gibt es zu allem eine übergeordnete Idee. Diese Ideenwelt ist die Realität, alles andere nur Abbild dieser Realität. Besonders wenn man Zahlen betrachtet, ist die Ideenwelt gar keine so abwegige Erklärung. Jeder hat schon einmal 1 Haus, 1 Baum, 1 Wort, 1 Buchstaben und die Ziffer 1 gesehen, aber ich zumindest und auch niemand, den ich kenne, hat bisher die Eins an sich gesehen. Zahlen sind Ideen. Zahlen sind die beste Möglichkeit, den Ideen näher zu kommen.

Wenn Zahlen Ideen sind, sind sie nicht physisch, sondern geistig existent. Lässt man die Existenz einer einzigen Zahl zu, sind alle anderen Zahlen auch existent. Geht man von der Eins aus, gibt es auch die Zwei, da sie ja aus zwei Einsen besteht. Alle natürlichen Zahlen können so gebildet werden. Innerhalb der natürlichen Zahlen sind allerdings nur Addition und Multiplikation uneingeschränkt möglich. Für eine Aufgabe wie 1-2 benötigt man negative Zahlen, um sie zu lösen. Innerhalb der ganzen Zahlen ist Division ist nur teilweise möglich. Um sie vollständig durchführen zu können, benötigt man Brüche. Erweitert man die rationalen Zahlen um irrationale Zahlen, erhält man die reellen Zahlen. Außer dem Wurzelziehen sind alle Rechenoperationen möglich. Für Wurzeln aus negativen Zahlen benötigt man imaginäre Zahlen, die zusammen mit den reellen Zahlen die komplexen Zahlen ergeben. Man kann dann nicht sagen, diese Zahlen sind wirklich und diese nicht, da keine Zahl unwirklicher als eine andere ist.

Die Ideenwelt funktioniert nur, wenn es verschiedene Abbilder der Ideen gibt. Gäbe es nur eine einzige Abbildung, wäre eine Ideenwelt vollkommen überflüssig. In der Mathematik ist es ein wenig komplizierter als bei anderen Dingen, verschiedene Abbildungen zu finden. Auf die Geometrie passt die Ideenwelt als Erklärung. Es gibt verschiedene Geometrien, die jeweils funktionieren. Ist die Mathematik eine Idee, müsste man mindestens eine andere entwerfen können, die ebenfalls funktioniert. Aber es ging ja um Zahlen. Verschiedene Abbildungen von Zahlen zu bekommen ist nicht sehr schwierig. Dass eine Ziffer verschieden aussehen kann, weiß jeder. Jeder Mensch hat eine andere Handschrift. Die Ziffer sieht zwar unterschiedlich aus, steht aber für dasselbe. Jede Sprache hat andere Worte für Zahlen.

Die platonische Ideenwelt ist natürlich nur eine philosophische Erklärung. Man kann glauben, dass es sie gibt oder man kann es lassen. Beweisbar ist ihr Existenz nicht. Sie ist eine Vermutung, die eine gute Erklärung für alles Mögliche liefert. So wie andere Philosophien auch.

Zahlen als Ideen sind meine bevorzugte Sichtweise auf die Wirklichkeit der Zahlen. Meiner Meinung nach sind alle Zahlen wirklich, obwohl man sie nicht sehen kann. Auch gedachte Dinge sind wirklich. Götz Werner sagte in seinem Vortrag, alles sei wirklich, was wir denken können. Dieser Auffassung schließe ich mich an. Dass etwas denkbar ist, bedeutet nicht, dass man es sich auch vorstellen kann. Die Unendlichkeit beispielsweise oder die in der projektiven Geometrie benutzten Fernpunkte kann man sich nicht vorstellen, daran denken kann man trotzdem.

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